22. November 2024

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Wirecard-Skandal: Justiz kämpft mit der Aufarbeitung

Vor einem Jahr meldete der Dax-Konzern Wirecard Insolvenz an - eine Starfirma wurde zum mutmaßlich größten Betrugsfall in Deutschland seit 1945. Die erste Anklage rückt näher. Und die Justiz ächzt unter der Welle von Zivilklagen.

Ein knappes Jahr nach der Insolvenz des Skandalkonzerns Wirecard rückt die erste Anklage näher. Die Münchner Staatsanwaltschaft will sich bei ihren Ermittlungen offensichtlich auf Teile der Vorwürfe konzentrieren, um bei Ex-Vorstandschef Markus Braun schneller zum Abschluss und damit zur erwarteten Anklage zu kommen.

Einen konkreten Termin nennen die Ermittler nicht, doch wird seit Wochen über eine Anklage in der zweiten Jahreshälfte spekuliert. Alle Aspekte des Tatkomplexes Wirecard zu ermitteln, wäre «eher eine Frage von Jahren als von Monaten», erklärte eine Sprecherin der Staatsanwaltschaft am Freitag. So lange dürfe man in einem Rechtsstaat niemanden in vorläufiger Untersuchungshaft behalten.

Die Behörde betonte wie immer, dass ergebnisoffen ermittelt werde. Somit ist auch die Einstellung eine mögliche, wenn auch eher theoretische Option. Braun und zwei andere Manager sitzen seit Sommer 2020 ununterbrochen hinter Gittern. Bei Haftsachen sind die Staatsanwaltschaften verpflichtet, so schnell wie möglich zum Abschluss der Ermittlungen zu kommen. «Wegen des besonderen Beschleunigungsgrundsatzes in Haftsachen ziehen wir insgesamt die Ermittlungen gegen in Untersuchungshaft sitzende Beschuldigte vor, soweit das überhaupt so isoliert möglich ist», sagte die Sprecherin. Dies lässt die Vermutung zu, dass es im Laufe der nächsten Jahre weitere Anklagen geben wird.

Der mittlerweile zerschlagene Wirecard-Konzern hatte am 25. Juni vergangenen Jahres nach dramatischen Wochen und Monaten Insolvenz angemeldet. Zunächst hatte der Zahldienstleister mehrfach die Vorlage der Jahresbilanz 2019 verschoben und schließlich am 18. Juni eingeräumt, dass 1,9 Milliarden Euro angeblich auf Treuhandkonten verbuchte Gelder nicht existierten. Unmittelbarer Auslöser war, dass die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft EY das Testat für die 2019er Bilanz verweigerte.

Die Staatsanwaltschaft geht von «bandenmäßigem Betrug» aus, bei dem kreditgebende Banken und Investoren um über drei Milliarden Euro geprellt worden sein sollen. Demnach soll die Wirecard-Chefetage spätestens 2015 begonnen haben, die Bilanzen mit Scheinumsätzen zu fälschen, um sich immer größere Summen zu beschaffen. Deswegen ist seit einem Jahr EY Zielscheibe von Schadenersatzforderungen, weil der mutmaßliche Milliardenschwindel den Prüfern nicht früher auffiel.

In Deutschland hat es zwar schon Wirtschaftskriminalfälle mit größerem Schaden für die beteiligten Unternehmen gegeben, so summierten sich die Folgekosten der Dieselaffäre für VW auf über 30 Milliarden Euro. Doch in Sachen Betrug läge Wirecard mit drei Milliarden auf Platz eins vor dem badischen Unternehmen Flowtex, das in den 1990er Jahren zwei Milliarden ergaunert hatte.

Mittlerweile streiten die Landgerichte München und Stuttgart um die Zuständigkeit für eine Welle mehrerer hundert Zivilklagen. Das Landgericht Stuttgart hat an die 140 im Zusammenhang mit dem Wirecard-Skandal stehende Klagen gegen den Wirtschaftsprüfer EY an das Landgericht München I verwiesen. In München sind damit etwa 400 Wirecard-Zivilklagen anhängig. Doch wollen die Münchner nicht allein auf diesen Verfahren sitzen bleiben.

Deswegen hat das dortige Landgericht in 21 Fällen «Gerichtsstandbestimmungsanträge» beim Oberlandesgericht Stuttgart gestellt, wie das OLG mitteilte. Sollte das Oberlandesgericht zu Gunsten Münchens entscheiden, werden die beteiligten Kammern in der bayerischen Landeshauptstadt voraussichtlich bei weiteren Verfahren die Übernahme verweigern.

Am OLG werde jeder Fall gesondert geprüft, erklärte eine Sprecherin. «Die Entscheidung ist nur für das jeweilige Verfahren bindend.» Über eine einstellige Zahl von Klagen gegen EY ist in München bereits entschieden, in diesen Fällen haben die Kläger verloren.

Bei Klagen gegen die Wirecard AG selbst ist nicht viel zu holen. Insolvenzverwalter Michael Jaffé hat bei der Zerschlagung des Konzerns über eine halbe Milliarde Euro mit dem Verkauf von Tochterfirmen erlöst, auf dieses Geld haben die Gläubiger Anspruch. Doch das deckt nur einen kleinen Teil des mutmaßlichen Schadens. Gläubiger und Zehntausende Aktionäre haben im Insolvenzverfahren Forderungen von über zwölf Milliarden Euro angemeldet.

Rechtlich betrachtet sind Aktionäre nicht Gläubiger, sondern Eigentümer. Insofern wird voraussichtlich in einem weiteren Gerichtsstrang geklärt werden müssen, ob Aktionäre im Insolvenzverfahren überhaupt Ansprüche haben. Der Insolvenzverwalter hat das jedenfalls mehrfach angedeutet.

Die Schadenersatzklagen konzentrieren sich auf EY, da das Unternehmen die mutmaßlich gefälschten Wirecard-Bilanzen bis 2018 testiert hatte. «Wir bei EY Deutschland bedauern sehr, dass der Betrug bei Wirecard nicht früher aufgedeckt wurde und werden entschieden handeln, damit sich ein Fall wie Wirecard nicht wiederholt», erklärte ein Sprecher der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft. Die verschiedenen laufenden Untersuchungen unterstütze EY in vollem Umfang.

Nicht geklärt ist bislang die Grundsatzfrage: Wie war ein Betrugsfall solchen Ausmaßes überhaupt möglich? Der Untersuchungsausschuss des Bundestags hat zu Tage gefördert, dass sich von Seiten der Behörden offensichtlich niemand so richtig für die Aufsicht über Wirecard zuständig fühlte. Wichtige Hinweise auf Geldwäsche und sonstige Verdachtsmomente versandeten. Die Opposition sieht klares Versagen der Bundesregierung, das Bundesfinanzministerium hat die Vorwürfe vielfach zurückgewiesen. Am kommenden Dienstag wollen die Bundestagsfraktionen ihre abschließenden Bewertungen vorlegen.

Von Carsten Hoefer, dpa