Das Gas fließt – aber die Bundesregierung bereitet sich darauf vor, dass sich das ändern könnte. Am Mittwoch hat Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) die Frühwarnstufe des so genannten Notfallplans Gas aktiviert.
Ein Krisenteam soll die Versorgung jetzt genau im Blick behalten und täglich Bericht erstatten. Die Gasnetzbetreiber sollen Gas bei Bedarf umleiten und sich gegebenenfalls bemühen, zusätzliches Gas zu beschaffen.
Grund für diesen Schritt ist ein Termin an diesem Donnerstag in Moskau. Dort will sich Präsident Wladimir Putin mit Vertretern des russischen Gasriesen Gazprom und der Zentralbank treffen. Hintergrund sind Forderungen Putins an Deutschland und andere westliche Staaten, Gaslieferungen künftig nicht mehr in Euro und Dollar, sondern in Rubel zu bezahlen – was diese ablehnen.
Was ist von dem Treffen in Moskau zu erwarten?
Putin hatte der russischen Zentralbank und Regierung am Mittwoch vergangener Woche eine Woche Zeit gegeben, die Modalitäten für die Umstellung von Devisen- auf Rubelzahlungen festzulegen. Nun will er sich über den Stand der Dinge informieren lassen. Die Umstellung der Zahlungen von Euro und Dollar auf Rubel soll nach Angaben des Kremls aber noch nicht an diesem Donnerstag in Kraft treten. Die Lieferung von Gas und die Bezahlung seien getrennte Prozesse, sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow am Mittwoch.
Müssen die Verbraucher um ihre Energieversorgung fürchten?
Nein. Denn derzeit fließt das Gas weiter, es geht auf den Sommer zu und die deutschen Gasspeicher sind nach Angaben des Branchenverbands Zukunft Gas zu 26 Prozent gefüllt, was im Rahmen der letzten fünf Jahre liege. Doch wenn die Lieferungen aus Russland wegbrechen, steht Deutschland nach den Worten von Habeck ein schwieriger Winter bevor. Privathaushalte genießen allerdings auch im Falle einer Knappheit besonderen Schutz. Zurückstehen müssten dann bestimmte Industriezweige. Erwartet werden in Folge des Kriegs in der Ukraine auch dauerhaft höhere Energiepreise. Die Abkehr von billigem russischem Gas wird Kosten mit sich bringen.
Was heißt das für Kunden, die keine Privathaushalte sind?
Noch fließt das Gas. Wenn es aber zum Äußersten kommen sollte und Gas knapp würde, müsste die Bundesnetzagentur entscheiden, wer zurückstehen müsste. Wie auch Haushaltskunden haben «grundlegende soziale Dienste» Vorrang – aus den Bereichen Gesundheitsversorgung, grundlegende soziale Versorgung, Notfall, Sicherheit, Bildung oder öffentliche Verwaltung. Die Definition sieht aber nur auf dem Papier einfach aus. Wenn zum Beispiel die Lebensmittel- und Pharmabranche bevorzugt würden, dann müssten ja auch Unternehmen, die die nötigen Verpackungen herstellen, weiter produzieren können, erklärte eine Sprecherin des Wirtschaftsministeriums.
Was bedeutet das für die deutsche Wirtschaft?
Die sieht der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) schon jetzt in Bedrängnis. «Die deutsche Industrie sieht die Gefahr, dass Unternehmen wegen der Energiepreise oder aufgrund eines russischen Exportstopps von Energierohstoffen in existenzielle Schwierigkeiten geraten», erklärte BDI-Hauptgeschäftsführer Joachim Lang und forderte staatliche Hilfen. Einige energieintensive Unternehmen seien bereits gezwungen, ihre Produktion wegen der hohen Kosten für Gas und Strom zu drosseln. BDI-Präsident Siegfried Russwurm warnte: «Bei umfassenden Lieferstörungen drohen Produktionsstopps mit unübersehbaren Folgen für Wachstum, Lieferketten und Beschäftigung.»
Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) warnte vor dem Hintergrund eines drohenden Lieferstopps für russisches Erdgas vor «extremen wirtschaftlichen Folgen». Der Verband der Chemischen Industrie (VCI) erklärte, Öl zumindest wäre im Fall eines Lieferausfalls teils aus anderen Regionen beziehbar, was bei Erdgas kurzfristig nicht möglich sei. Bei einem Lieferstopp müsse mit einer «schweren Rezession mit einem massiven Verlust von Arbeitsplätzen» in Deutschland gerechnet werden, sagte Hauptgeschäftsführer Wolfgang Große Entrup dem Münchner «Merkur» (Mittwoch). Die Chemie- und Pharmabranche verbraucht große Mengen an Öl und Gas.
Die «Wirtschaftsweisen» schraubten ihre Konjunkturprognose für dieses Jahr deutlich nach unten. Der Sachverständigenrat erwartet wegen des Kriegs in der Ukraine nur noch ein Wachstum der Wirtschaft von 1,8 Prozent. Sollte sich der Konflikt verschärfen und zum Beispiel Gaslieferungen nach Deutschland ausbleiben, drohe eine Rezession.
Wie viel Gas kommt aktuell aus Russland?
Der Anteil russischer Gaslieferungen ist in Deutschland nach jüngsten Angaben des Bundeswirtschaftsministeriums von Ende vergangener Woche inzwischen von 55 auf 40 Prozent gesunken. Bis zum Sommer 2024 könne es gelingen, bis auf wenige Anteile unabhängig von russischem Gas zu werden, stellte Habeck in Aussicht. Bei Öl und Kohle soll es Deutschland demnach noch im Laufe diesen Jahres schaffen, sich weitgehend von Russland zu lösen.
EU-weit kommen laut EU-Kommission etwa 40 Prozent des verbrauchten Gases aus Russland. Nach Schätzungen der Brüsseler Denkfabrik Bruegel geben die EU-Staaten derzeit täglich rund 420 Millionen Dollar (380 Mio Euro) für russisches Gas aus und knapp 400 Millionen Dollar (362 Mio Euro) für Öl aus Russland aus.
Woher soll die Energie künftig kommen?
Darauf gibt es mehrere Antworten. Die Bundesregierung will Energieeffizienz, also einen sparsameren Verbrauch, vorantreiben, und zwar durch Technologie oder zum Beispiel bessere Dämmung von Häusern. Ganz unmittelbar ruft sie die Bürger auch zum Energiesparen auf. Zweitens soll der Ausbau erneuerbarer Energien weiter vorangetrieben werden. Kohlekraftwerke sollen länger in der Reserve bleiben. Und schließlich bemühen sich die EU und Deutschland um neue Energie-Handelspartner. So wollen die USA künftig große Mengen Flüssiggas (LNG) liefern, in Deutschland sind Terminals geplant. Habeck reiste zuletzt nach Katar und in die Vereinigten Arabischen Emirate, um eine Zusammenarbeit beim Import von LNG und Wasserstoff voranzutreiben.
Helfen sich europäische Staaten aus?
Nach europäischem Recht sind die EU-Staaten verpflichtet, einander beizustehen, wenn es knapp wird, erklärt das Wirtschaftsministerium. Dazu brauche es Verträge, die Nachbarstaaten jeweils miteinander abschließen. Deutschland sei mit neun EU-Nachbarstaaten in Verhandlungen, mit Dänemark und Österreich seien bereits entsprechende Vereinbarungen getroffen. Eine Unterzeichnung mit Italien stehe kurz bevor, die Verhandlungen mit Polen und Tschechien seien weit fortgeschritten. Gespräche mit Frankreich, Belgien, Luxemburg und den Niederlanden sollen weiter vertieft werden.
Wie schmerzhaft wäre ein Gas-Lieferstopp für Russland?
Der russische Staatshaushalt ist zu großen Teilen von den Einnahmen aus dem Öl- und Gasgeschäft abhängig. Im dritten Quartal 2021 lag ihr Anteil bei 34,5 Prozent. Experten gehen davon aus, dass der Haushalt ohne die Einnahmen aus den Rohstoffexporten massiv ins Defizit rutschen könnte. Allerdings verfügt Russland zugleich über immense finanzielle Rücklagen und Reserven an ausländischen Währungen (Devisen). Ein Teil davon ist durch die westlichen Sanktionen quasi eingefroren, jedoch nicht alles.
Macht das die Finanzierung von Putins Krieg schwieriger?
Aus Sicht des Kreml ist die Kriegskasse auch durch die Rücklagen gut gefüllt. Der Ökonom Janis Kluge, Russlandexperte der Stiftung Wissenschaft und Politik, geht zudem davon aus, dass der Krieg derzeit gar nicht so viel Geld verschlingt. Das Teuerste, also Rüstungsgüter wie Panzer, Raketen und Flugzeuge, sei bereits in den vergangenen Jahren gebaut und angeschafft worden. «Durch unsere Energieimporte in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten haben wir Russland in die Lage versetzt, sich die Aufrüstung zu leisten», sagte der Ökonom der «Tagesschau». Die laufenden Kosten wie Soldatensold und Diesel könne Russland problemlos bezahlen.
Auch der «Wirtschaftsweise» Volker Wieland geht davon aus, dass Putin seinen Krieg weiter finanzieren kann. Die russische Notenbank könne jederzeit Rubel ausgeben, wenn man eine noch höhere Inflation in Kauf nehme. «Natürlich fehlen die Devisen und Staatseinnahmen bei einem Importembargo oder Lieferstopp. Aber die Regierung kann auch unabhängig davon den Krieg fortführen», sagte Wieland der «Welt».
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