23. November 2024

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Europa und Italien: Wie gefährlich ist die Krise?

Corona, Ukraine-Krieg, Inflation, Regierungskrise in Italien - die Serie der Schocks für Europa reißt nicht ab. Die Ungewissheit in Rom strahlt auch auf Deutschland aus. Etliche Branchen sind betroffen.

Regierungskrise und Neuwahlen in Rom wecken böse Erinnerungen. Droht dem wirtschaftlich eng verflochtenen Euroraum eine neue Schuldenkrise? Was Volkswirten etwas Hoffnung macht: Manches ist anders als 2012.

Italien ist die drittgrößte Euro-Volkswirtschaft nach Deutschland und Frankreich. «Neben der Energieknappheit und gestörten Lieferketten ist die Regierungskrise in Italien eine weitere ernsthafte Belastung für den Euroraum», fasst der finanzpolitische Sprecher der Grünen im Europäischen Parlament, Rasmus Andresen, zusammen. «Die EU steht am Beginn einer neuen Wirtschaftskrise.» VP-Chefvolkswirt Thomas Gitzel bringt es auf den Nenner: «Die Rezession rauscht an.»

Wie stark sind Italien und Deutschland wirtschaftlich verflochten?

Die beiden Euro-Schwergewichte unterhalten intensive Handelskontakte. 2021 lag Italien für die Bundesrepublik auf Platz sechs der wichtigsten Exportmärkte, Daten des Statistischen Bundesamts zufolge gingen Ausfuhren im Wert von rund 75,3 Milliarden Euro in das Land. Bei den Importen nach Deutschland rangierte Italien an fünfter Stelle, die Einfuhren addierten sich auf gut 65,4 Milliarden Euro.

Für Italien wiederum war Deutschland nach Angaben des Auswärtigen Amts im vergangenen Jahr sowohl der wichtigste Absatzmarkt (12,8 Prozent aller Ausfuhren) als auch die wichtigste Importquelle (16,4 Prozent aller Einfuhren). Wenn es in einer dieser Volkswirtschaften bei Konsum, Investitionen oder Staatsausgaben größere Veränderungen gibt, kann dies die Lage des anderen Landes mit beeinflussen.

Welche Waren und Dienstleistungen bestimmen die Ex- und Importe?

Bedeutend unter den italienischen Industrieausfuhren sind Maschinen, Metallwaren, Autos, Elektronik sowie Chemie- und Pharmaerzeugnisse. Hinzu kommen viele Produkte aus Landwirtschaft und Ernährung wie Obst, Käse, Wein, Süßwaren oder Fleisch- und Getränkespezialitäten. Mode und Textilien bilden eine weitere Gruppe. Während des ersten Corona-Jahres 2020 gingen die Exporte in mehreren dieser Kategorien zurück. Der Landwirtschaftsverband Coldiretti erklärte, die aktuelle politische Krise in Italien dürfte die Agrarexporte des Landes kaum betreffen – wohl aber das Extremwetter mit Trockenheit und Bränden.

Italien importiert seinerseits ebenfalls viele Industrieprodukte oder Zulieferungen von Bauteilen oder Stoffen, die in diese einfließen. Auch Energie, Kunststoffe, Fahrzeuge, Textilien und Nahrungsmittel haben größere Anteile. Und natürlich ist das Land für deutsche Touristen eines der beliebtesten Urlaubsziele, was Hotellerie und Gastronomie in der Feriensaison Milliardeneinnahmen einbringt.

Welche Rolle spielen der italienische Maschinen- und Automobilbau?

Das Herz beider Branchen schlägt im Norden, wo zahlreiche, oft hoch spezialisierte Maschinen- und Anlagenbauer zu Hause sind. Sie verkaufen ihre Produkte in die ganze Welt – viele davon auch nach Deutschland, im Autogeschäft zu rund einem Fünftel. So machten die gerissenen Lieferketten zu Beginn der Pandemie der Industrie nicht zuletzt deshalb Probleme, weil der Nachschub aus Norditalien stockte.

Die deutsche Metall- und die Kautschukbranche appellierten seinerzeit an die Politik, sich für eine stabilere Versorgung einzusetzen, nachdem der damalige Regierungschef Giuseppe Conte verfügt hatte, auf dem Höhepunkt der ersten Viruswelle alle nicht lebensnotwendigen Produktionsaktivitäten herunterzufahren. Dabei ging es auch um Zulieferungen für Medizintechnik wie Beatmungsgeräte. Norditalien ist zudem die Region mit den meisten deutschen Direktinvestitionen in dem Land. Ihr Bestand lag im Jahr 2019 bei über 40 Milliarden Euro. Autobauer wie die Stellantis-Gruppe – unter anderem mit Fiat, Lancia, Alfa Romeo und Maserati – sind umgekehrt Kunden deutscher Zulieferer.

Mündet die Italien-Krise in eine neue Euro-Schuldenkrise?

Im Sommer 2012 stand die Eurozone am Abgrund. Akteure an den globalen Finanzmärkte hatten das Vertrauen in die Schuldentragfähigkeit vieler Länder verloren. Die Zinsen für Staatsanleihen etwa Italiens schossen in die Höhe, Spekulanten wetteten auf den Euro-Crash. In den vergangenen Wochen stiegen die Kapitalmarktzinsen in Südeuropa erneut deutlich. Der Renditeabstand – der Spread – zwischen Staatsanleihen Deutschlands und denen höher verschuldeter Euroländer weitete sich aus. Das heißt: Für Länder wie Italien wird es teurer, sich frisches Geld zu besorgen. Die Europäische Zentralbank (EZB) sah sich Mitte Juni zu einer Sondersitzung gezwungen, um die Lage zu beruhigen.

«Wirtschaftlich droht keine neue Schuldenkrise», sagt Carsten Brzeski, Chefvolkswirt der ING Deutschland. «Alle Länder, auch Italien, haben die letzten Jahre genutzt, die Zinszahlungen zu reduzieren.» Zudem sei Europa heute viel besser vorbereitet, meint Brzeski und verweist unter anderem auf den Euro-Rettungsschirm ESM.

Ähnlich sieht das Ifo-Präsident Clemens Fuest: Die Eurozone habe «durch Reformen wie die erfolgten Schritte in Richtung Bankenunion an Resilienz gewonnen». Doch Fuest warnt: «Gleichwohl sehen wir derzeit Entwicklungen, die aus der Zeit der Eurokrise bekannt sind, vor allem steigende Risikozuschläge auf italienische Staatsanleihen.»

Die Volkswirte der Deutschen-Bank-Fondstochter DWS erinnern: Die Euro-Schuldenkrise 2012 habe «die unvollendete Konstruktion der Gemeinschaftswährung schonungslos offengelegt». Auch heute gleiche die Eurozone «weniger einem integrierten Währungsraum als vielmehr einem Regime fester Wechselkurse mit gemeinsamer Währung, aber individueller Wirtschafts- und Fiskalpolitik und fragmentierten Arbeits- oder Bankenmärkten».

Was kann die Europäische Zentralbank tun?

Im Sommer 2012 sprach der damalige EZB-Präsident Mario Draghi ein Machtwort: «Die EZB wird alles tun, um den Euro zu retten», versprach der Italiener («Whatever it takes»). Wenig später erklärte sich die Notenbank bereit, über das neue Kaufprogramm OMT notfalls unbegrenzt Anleihen von Euro-Krisenstaaten zu erwerben – vorausgesetzt, das jeweilige Land erfüllt strenge Reformvorgaben. Allein die Entschlossenheit der Währungshüter beruhigte die Finanzmärkte.

Ein ähnliches Kalkül scheint hinter dem jetzt beschlossenen Hilfsprogramm TPI zu stecken. Mit diesem will die EZB notfalls über Anleihenkäufen einschreiten, sollten Spekulanten die Zinsen für Wertpapiere eines Euro-Staates aus ihrer Sicht unverhältnismäßig stark nach oben treiben. Staaten müssen am Markt nicht mehr so hohe Zinsen bieten, wenn die EZB als großer Käufer auftritt.

«Die EZB hat genug Mittel, um spekulative Kapitalbewegungen abzuwehren», ist Dekabank-Chefvolkswirt Ulrich Kater überzeugt. Das TPI müsse aber dringend ergänzt werden um politische Maßnahmen. «Das kann nur eine Korrektur der Verschuldungspolitik im betreffenden Land sein. Diese Themen sind nicht in Frankfurt, sondern in Brüssel und in den Hauptstädten der Mitgliedstaaten zu entscheiden.»

Von Jörn Bender, Jan Petermann und Johannes Neudecker, dpa