Im Abgasskandal haben Hunderttausende längst Geld von VW bekommen – rund 28.000 Diesel-Kläger warten dagegen bis heute vergeblich. Sie haben ihre Forderungen vor Jahren an den Rechtsdienstleister Myright für dessen Sammelklagen abgetreten, aber die Verfahren schleppen sich dahin. Ein Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH) aus dem Juni hätte vielleicht den Durchbruch bedeuten können. Laut Volkswagen wird es trotzdem keine schnelle Lösung geben. «Es kann noch einige Jahre dauern, bis es in den großen Sammelklagen zu einer Entscheidung kommt», teilte der Konzern auf Anfrage mit.
Rückblick: 2016, als immer mehr Details über eine illegale Abgastechnik in Millionen Diesel-Autos ans Licht kommen, ist völlig offen, ob Betroffenen in Deutschland Schadenersatz zusteht. «Myright soll die zentrale Plattform für den Zugang zu Recht und Gerechtigkeit werden», versprechen die Gründer auf ihrer Internetseite. Denn: «Welcher Verbraucher kann es mit Weltkonzernen wie VW aufnehmen?»
Bei Erfolg: 35 Prozent Provision für Myright
Myright will vor allem Menschen ansprechen, die keine Rechtsschutzversicherung haben und niemals allein vor Gericht ziehen würden. Das Start-up lässt sich online die Forderungen abtreten. Bei Erfolg wird eine Provision von 35 Prozent fällig. Scheitert die Klage, müssen die Kundinnen und Kunden nichts bezahlen. Myright wiederum bekommt das Geld für die Verfahren von einem Prozessfinanzierer, ebenfalls gegen Provision.
Echte Sammelklagen wie in den USA kennt das deutsche Rechtssystem nicht. Die Zivilprozessordnung sieht aber vor, dass mehrere Ansprüche gegen denselben Beklagten in einer Klage verbunden werden können. Im November 2017 reicht Myright die erste Sammelklage am Landgericht Braunschweig ein. Es folgen sieben weitere Sammelklagen auch an anderen Landgerichten, für insgesamt rund 28.000 Diesel-Besitzer aus Deutschland. Myright setzt auch darauf, dass ein Kläger in einem Musterfall Schadenersatz zugesprochen bekommt und sich VW dann vielleicht zu einer außergerichtlichen Einigung bereiterklärt.
Aber dazu kommt es nicht. VW zweifelt grundsätzlich an, dass sich Myright die Forderungen überhaupt wirksam abtreten lassen durfte. Und die Bearbeitung der Klagen zieht sich. Über die erste eingereichte Sammelklage wurde in Braunschweig bis heute nicht verhandelt.
Gleichzeitig kommt 2020 in die Aufarbeitung des Dieselskandals plötzlich Bewegung. Ende Februar endet die zwischenzeitlich von der Politik ermöglichte Musterfeststellungsklage der Verbraucherzentralen gegen VW mit einem Vergleich. Über alle Konzernmarken hinweg profitieren etwa 244.000 Menschen, die zwischen 1350 und 6257 Euro bekommen. Im Mai spricht der BGH sein erstes und wichtigstes Urteil. Die obersten Zivilrichterinnen und -richter stellen fest, dass VW Millionen Autokäufer hinters Licht geführt hat und Betroffenen grundsätzlich Schadenersatz schuldet. In der Folge einigt sich Volkswagen bis Ende 2021 mit weiteren mehr als 40.000 Einzelklägern.
Verhärtete Fronten
Nur zwischen Myright und VW sind die Fronten verhärtet. «Die Verteidigungsbereitschaft ist extrem hoch, weil es für Volkswagen um viel geht», mutmaßt Myright-Geschäftsführer Sven Bode.
Seit wenigen Wochen kann das junge Unternehmen seine Forderungen auf ein höchstrichterliches Urteil stützen: Am 13. Juni entscheidet der Dieselsenat des BGH, dass eine Myright-Klage für ungefähr 2000 Schweizer VW-Kunden zulässig ist. Bei der Verkündung gehen die Richterinnen und Richter nicht ausdrücklich auf die deutschen Klagen ein. Aber inzwischen ist das schriftliche Urteil veröffentlicht.
Darin steht schwarz auf weiß, dass das Geschäftsmodell von Myright «unzweifelhaft» erlaubt ist. Den Richtern zufolge ist das eigentlich schon seit einem Urteil der Kollegen vom II. Zivilsenat aus dem Juli 2021 klar. Damals ging es um die Insolvenz von Air Berlin, ein Dienstleister forderte für sieben Kunden das Geld für bereits bezahlte Flüge zurück. Laut Dieselsenat gilt für die «massenhafte Bündelung» von Ansprüchen, wie sie Myright betreibt, nichts anderes.
Es gebe auch keine Anhaltspunkte dafür, «dass durch die Klägerin in erheblichem Umfang von vornherein unberechtigte Klageverfahren eingeleitet werden». Für die Betroffenen des Abgasskandals sehen die BGH-Richter sogar «erhebliche Vorteile»: Die Einschaltung von Myright habe «zu einer erheblichen Verbesserung der Verhandlungsposition der einzelnen Auftraggeber» gegenüber VW geführt, «da erst durch die Bündelung der Ansprüche von mehreren tausend Anspruchstellern ein wirtschaftliches Gleichgewicht (…) erzielt wurde».
VW-Rechtsvorstand Manfred Döss zeigte sich Ende Juni in der «Neuen Zürcher Zeitung» (NZZ) «sehr überrascht von dem Urteil». Zum Vorgehen nach der genauen Analyse sagte er: «Wenn es wahrscheinlich ist, dass im weiteren Verfahren den Kunden ein entsprechender Schadenersatz zugesprochen wird, werden wir eine entsprechende Zahlung an die Kläger analog der Vergangenheit schon vorab vornehmen.»
Das scheint inzwischen vom Tisch. «Myright müsste zunächst eine verlässliche tatsächliche Grundlage für etwaige wirtschaftliche Einigungen schaffen», heißt es nun von VW. «Eine solche verlässliche Grundlage liegt derzeit nicht vor.» Der Sachvortrag enthalte «zahllose Lücken, Widersprüche und Unstimmigkeiten». Daher müssten sich die Gerichte «nun mit den einzelnen Ansprüchen befassen».
Myright-Chef: VW will auf Zeit spielen
Für Myright-Chef Bode steht etwas anderes dahinter. «VW versucht, auf Zeit zu spielen und die Sammelklagen in die Länge zu ziehen.» Denn an sich geht es um «klassische» Diesel-Fälle, in denen Kunden ein Auto mit dem VW-Skandalmotor EA189 gekauft haben. Dieser war unstreitig so manipuliert, dass Abgas-Grenzwerte nur in Tests eingehalten wurden.
Für die Betroffenen ist das misslich. Denn nach der Rechtsprechung des BGH ist vom Schadenersatz die Nutzung des Autos abzuziehen – wer es jahrelang weiterfährt, geht also möglicherweise leer aus.
Myright versucht es nun anders: Das Unternehmen hat begonnen, einzelne Verfahren aus den Sammelklagen herauszulösen und sie bundesweit an allen möglichen Landgerichten anhängig zu machen. 150 bis 300 Fälle kommen laut Bode Woche für Woche dazu. Das soll für eine schnellere Bearbeitung sorgen. Von der ursprünglichen Idee der Sammelklagen ist damit allerdings nicht mehr allzu viel übrig.
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