Für das von der Bundesregierung ausgegebene Ziel klimaneutraler Gebäude bis 2045 wären nach Einschätzung von Fachleuten eine sechsstellige Zahl neuer Fachkräfte und zusätzliches Kapital in dreistelliger Milliarden- bis Billionenhöhe notwendig.
Der Zentralverband des deutschen Baugewerbes (ZDB) geht davon aus, dass die Branche 150.000 bis 200.000 zusätzliche Arbeitskräfte einstellen müsste. Das sagte ZDB-Hauptgeschäftsführer Felix Pakleppa der Deutschen Presse-Agentur.
Den Personalbedarf hat auch das Bundeswirtschaftsministerium ermitteln lassen, in dem im März veröffentlichten Gutachten ist von 215.000 zusätzlichen Arbeitsplätzen die Rede, die zur energetischen Modernisierung im Bauhandwerk entstehen könnten. «Nur so kann die erforderliche Erhöhung der Sanierungsquote bewerkstelligt werden», heißt es in dem «Hintergrundpapier Gebäudestrategie Klimaneutralität 2045».
Die Federführung hatte das Prognos-Institut, beteiligt waren unter anderem das Freiburger Öko-Institut und die bundeseigene Deutsche Energie-Agentur. Der erhöhte Personalbedarf ergibt sich daraus, dass die derzeitige «Sanierungsquote» von geschätzt etwa einem Prozent des Wohnungsbestands pro Jahr sich nach übereinstimmenden Berechnungen verschiedener Fachleute nahezu verdoppeln müsste, auf 1,8 oder 1,9 Prozent im Jahr.
Material- und Fachkräftemangel
Wo und wie eine sechsstellige Zahl neuer Handwerker und Bauarbeiter rekrutiert werden soll, ist unklar. «Aktuell schaffen wir gerade einmal eine Sanierungsrate von einem Prozent pro Jahr», sagt Axel Gedaschko, der Präsident des Bundesverbands deutscher Wohnungs- und Immobilienunternehmen (GdW). «Und schon jetzt herrscht ein massiver Material- und Fachkräftemangel.»
Insgesamt gibt es in Deutschland laut Statistischem Bundesamt über 43 Millionen Wohnungen. Die üblicherweise geschätzte Sanierungsrate von einem Prozent entspräche also einer Zahl von über 430.000 modernisierten Wohnungen pro Jahr. Für eine annähernde Verdopplung müsste also alljährlich eine fast ebenso hohe Zahl von Wohnungen zusätzlich saniert werden.
Doch eine große Einstellungswelle im Bauhandwerk ist nicht in Sicht. Stattdessen bringt der derzeitige Einbruch des Wohnungsbaus die Branche in Schwierigkeiten. «Wir sehen eindeutig, dass das Baugewerbe per saldo Stellen abbauen wird in Bayern», sagt Manfred Gößl, der Hauptgeschäftsführer des Bayerischen Industrie- und Handelskammertags. «Es gibt keinerlei Anzeichen, dass wir von den äußeren Rahmenbedingungen einen Schub bekommen.» Gößl bezieht sich auf den Freistaat, doch andernorts steht das Baugewerbe auch nicht besser da.
Auch Kapititalbedarf schießt in die Höhe
Eine sofortige Verdopplung (der Sanierungsquote) sei «schlicht nicht umsetzbar», sagt GdW-Präsident Gedaschko. «Etwas zu beschließen, heißt eben noch lange nicht, dass es in der Praxis auch funktioniert.»
Was den zusätzlichen Kapitalbedarf betrifft, so gehen die Berechnungen auseinander, doch handelt es sich in jedem Fall um schwindelerregende Beträge. Im Hintergrundpapier des Bundeswirtschaftsministeriums ist von 448 Milliarden Euro Mehrinvestitionen bis 2045 die Rede.
Die in Kiel ansässige Arbeitsgemeinschaft für zeitgemäßes Bauen kam im vergangenen Jahr auf eine wesentlich höhere Summe. «Bei den Kosten wird einem allerdings ein bisschen schwindlig», sagt ZDB-Hauptgeschäftsführer Pakleppa dazu. Bislang gaben Hauseigentümer und Wohnungsunternehmen demnach etwa 50 Milliarden pro Jahr für energetische Modernisierungen aus.
Auf Basis des Standards EH 115 – des bisherigen Altbaustandards – wären laut Arge Kiel 110 Milliarden Euro pro Jahr notwendig, sagt Pakleppa. «Wenn man auf den vom Bundeswirtschaftsministerium geforderten Standard EH 55 gehen will, brauchen wir 165 Milliarden im Jahr. Das heißt, bis 2045 wären das 3,4 oder 3,5 Billionen, da will ich mit dem Komma großzügig sein.»
Pakleppa betont, dass er das Ziel Klimaneutralität 2045 dennoch für erreichbar hält – vorausgesetzt, dass die Rahmenbedingungen inklusive staatlicher Förderung stimmen.
Enger «Lösungskorridor»
Auch die vom Bundeswirtschaftsministerium beauftragten Gutachter gehen davon aus, dass ein klimaneutraler Gebäudebestand bis 2045 machbar ist, doch der «Lösungskorridor» sei «sehr eng». Läuft nicht alles wie geschmiert, wird der Plan demnach scheitern: «Abweichungen in einzelnen Handlungsfeldern können kaum kompensiert werden und führen zur Zielverfehlung 2045», heißt es in dem Papier.
Doch sind sich quasi alle Experten einig, dass es derzeit keineswegs optimal läuft, und dass abgesehen von den fehlenden Fachkräften insbesondere erheblich höhere staatliche Zuschüsse notwendig wären. «Allein um die Auflagen des Gebäudeenergiegesetzes zu erfüllen, müsste in den nächsten 20 Jahren ein Betrag von rund 61 Milliarden Euro in den Beständen der im GdW organisierten Wohnungsunternehmen investiert werden», sagt dessen Präsident Gedaschko.
«Der Gesetzentwurf sieht aktuell nur eine Förderung von Eigentümern vor. Es ist bislang völlig offen, wie Mieter und Vermieter unterstützt werden sollen.»
Die Unternehmen verfügten nicht über das Eigenkapital und die Liquidität, um für nennenswerten Neubau sowie Sanierungen und Heizungstausch zu sorgen. «Das ist ein völlig inakzeptabler Zustand für ein Land, in dem fast 60 Prozent der Haushalte zur Miete leben», sagt Gedaschko. Der GdW ist kein Zusammenschluss von Immobilienhaien, sondern der Dachverband der Wohnungsgenossenschaften, kommunaler Gesellschaften und anderer sozial orientierter Vermieter.
Beträchtlich höhere staatliche Zuschüsse als bisher halten auch die Fachleute des Darmstädter Instituts für Wohnen und Umwelt (IWU) für sinnvoll beziehungsweise notwendig. «Im Neubau sollte primär auf gesetzliche Vorschriften gesetzt werden», sagt IWU-Experte Andreas Enseling. «Förderung kann dazu flankierend eingesetzt werden. Im Bestand sind wir der Meinung, dass eine Kombination aus deutlich erhöhter Förderung und Ausweitung der CO2-Bepreisung am besten geeignet wäre, die Ziele der Klimaneutralität zu erreichen.»
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