Lotte, Kalle, Lieschen oder Gandhi: Wer in Berlin kostenlos ein Lastenrad ausleihen will, hat die Qual der Wahl. Rund 150 Fahrräder mit Transportfläche und lustigen Namen bietet der ADFC Berlin über die freie Lastenrad-Initiative «fLotte» in der Hauptstadt an.
Nutzer müssen sich zunächst registrieren und können dann online schauen, an welchem Tag in ihrer Nähe ein Lastenrad zur Verfügung steht. Wer zur Abholung allerdings nicht ans andere Ende der Stadt fahren will, muss schon mal zwei Wochen warten. Die Nachfrage ist groß. Lastenräder boomen, nicht nur in Berlin.
«Die Bewegung wächst weiter, es werden mehr Initiativen, ständig kommen neue dazu und viele wachsen rasant», sagt Arne Behrensen, Geschäftsführer von cargobike.jetzt, einer Agentur und Projektschmiede zur Förderung von Lastenrädern. Über 100 Initiativen haben sich bereits zusammengeschlossen im «Forum freie Lastenräder» und es gibt sie inzwischen in zahlreichen Städten dieses Landes – von der Graswurzel-Initiative mit einem Rad für den Kiez bis hin zu größeren und professionell organisierten Flotten wie in Berlin.
«Was eint, sind die gemeinsamen Tools, das gemeinsame Treffen, die Austauschplattformen», sagt Behrensen. Es gibt ein kostenloses Open-Source-Buchungsprogramm, das die Initiativen unkompliziert auf ihren Internet-Seiten integrieren können. Rund um das Thema ist eine Gemeinschaft entstanden, die die Räder populär und bekannt gemacht hat – als Alternative zum eigenen Auto in kurz vor dem Verkehrskollaps stehenden Städten und Gemeinden.
Doch die Szene ist im Umbruch: Aus Sicht mancher Experten stoßen die Initiativen angesichts der rasanten Nachfrage allmählich an Grenzen. Kommerzielle Anbieter und neue Netzwerke stehen bereit, um das Thema Lastenrad auf das nächste Level zu heben – mit festen Stationen und minutengenauer Ausleihe per App zu jeder Tageszeit. Sie sehen diese Entwicklung als notwendigen Schritt, wenn das Lastenrad wirklich dazu beitragen soll, den Verkehr in Deutschland nachhaltig zu verändern.
«Mobilität ist nicht an Öffnungszeiten gebunden», sagt etwa Tobias Lochen, Gründer des Darmstädter Lastenrad-Start-ups Sigo, das Transportrad-Verleihsysteme in derzeit elf Städten betreibt. «Das ist der Unterschied zu den kostenfreien Initiativen. Wir sind 24 Stunden, 7 Tage die Woche per App verfügbar.» Erst im vergangenen Jahr hat Sigo losgelegt, bietet aktuell 50 elektrische Fahrzeuge an, die an festen Stationen abgeholt und abgegeben werden können und dort automatisch geladen werden. Noch in diesem Jahr wollen Lochen und sein Team die Flotte massiv vergrößern und in weitere Städte expandieren.
Dafür kooperieren sie vor allem mit Wohnungsgenossenschaften und Immobilienunternehmen, auf deren Flächen Sigo seine Stationen betreibt. Aus Lochens Sicht eine Win-Win-Situation: Die Unternehmen können ihre Quartiere ohne großen Aufwand aufwerten und Lochen muss nicht den Umweg über die Kommunen gehen, die aus seiner Sicht bei dem Thema deutlich schwerfälliger unterwegs sind.
Der Wettbewerb kommerzieller Lastenrad-Verleiher ist in Deutschland noch überschaubar. In Köln ist das Start-up Donkee mit einer eigenen Lastenradflotte schon länger unterwegs. Die Deutsche Bahn sowie der Fahrradverleiher Nextbike betreiben einige Pilotprojekte. Doch andere große Konzerne, etwa der vor allem für seine E-Fahrräder und -Tretroller bekannte Anbieter Lime, sind zurückhaltend. «Wir schauen uns das Thema bereits seit längerem mit großem Interesse an – derzeit gibt es aber keine konkreten Pläne für Deutschland, selbst Lastenräder anzubieten», teilt ein Sprecher auf Anfrage mit.
Doch könnten es vor allem die Kommunen sein, die mit ihrer Nachfrage Bewegung in den Markt bringen. «Gerade jetzt mit Corona ist dieser Boom so groß, dass das für viele Kommunen ein Teil der Daseinsvorsorge werden kann – in ländlichen Regionen, aber auch in Städten», sagt Anita Benassi von der «Transportrad Initiative Nachhaltiger Kommunen» (TINK). Gefördert vom Bundeswirtschaftsministerium berät das Unternehmen Städte und Gemeinden, die ein solches Angebot auf die Beine stellen wollen.
Vor allem in Bayern laufen derzeit, unterstützt vom Landeswirtschaftsministerium, diverse Ausschreibungen bei mehreren Kommunen. «Es ist ein neuer Markt», sagt Benassis TINK-Kollegin Judith Wehr. «Ich habe das Gefühl, dass wir diesen mit den Ausschreibungen beleben.» Diese laufen für die Räder, die Stationen und den Betrieb meist getrennt. Start-ups wie Sigo mit ihren Gesamtsystemen tun sich damit schwerer.
Laut Wehr bewerben sich auf den Betrieb vor allem lokale Anbieter wie Fahrradhändler, aber auch größere Player wie Nextbike. An manchen Orten kämen auch die Lastenrad-Initiativen selbst zum Zug: In Hannover etwa entsteht in Kooperation mit der dortigen Initiative «Hannah» ein einheitliches, kostenpflichtiges Verleihsystem.
Stellt der eigene Erfolg also plötzlich die Zukunft der freien Lastenräder in Frage? «Hinter den freien Initiativen stecken engagierte Radmenschen, die das Thema voranbringen wollen – ich sehe da keine Konkurrenz», sagt Wehr. «Es ergibt durchaus Sinn, verschiedene Systeme nebeneinander stehen zu haben.» Lotte, Kalle, Lieschen und Gandhi würden das wohl befürworten.
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