21. November 2024

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Bekommt Amazon seine erste US-Gewerkschaft?

Amazon ist der zweitgrößte Arbeitgeber in Amerika. Doch US-Gewerkschaften haben bei dem Konzern des reichsten Menschen der Welt, Jeff Bezos, nichts zu melden. Das könnte sich nun ändern.

Die Fronten sind verhärtet, die Gemüter erhitzt: Amazon und Gewerkschaften – das passte noch nie zusammen.

Immer wieder gerät der weltgrößte Online-Händler wegen seiner Arbeitsbedingungen in die Kritik, in Europa ist das Verhältnis deshalb entsprechend angespannt. In den USA hingegen haben Gewerkschaften beim Konzern des reichsten Menschen der Welt, Jeff Bezos, bislang gar nichts zu melden. Amazon ist zwar nach Walmart der zweitgrößte Arbeitgeber im Land, doch eine gewerkschaftliche Vertretung gibt es nicht. Das könnte sich in wenigen Tagen ändern.

Seit fast zwei Monaten stimmen die rund 6000 Beschäftigten eines Logistiklagers in Bessemer im südöstlichen US-Bundesstaat Alabama über eine Arbeitnehmervertretung ab. Es ist eine historische Wahl, die den Weg für die erste US-Gewerkschaft bei Amazon in der rund 27-jährigen Geschichte des Konzerns ebnen könnte. Kein Wunder, dass das Votum landesweit großes Interesse auf sich zieht. Beim Wahlkampf erhielt die Gewerkschaft bereits Unterstützung von Spitzenpolitikern bis hin zu Präsident Joe Biden und etlichen anderen Prominenten.

Nun steht der Show-down unmittelbar bevor: Die Mitarbeiter können bis zum Fristende an diesem Montag entscheiden, ob sie für den Anschluss an die US-Handelsgewerkschaft RWDSU sind. Dass die Abstimmung so lange dauert, liegt am Briefwahlverfahren wegen der Pandemie. Amazon hatte versucht, das Votum zu verzögern, war jedoch mit einem Einspruch bei der Arbeitnehmerschutzbehörde National Labor Relations Board abgeblitzt. Die Initiative der Gewerkschaft will sicherere Arbeitsbedingungen und faire Löhne erstreiten. Amazon ist der Ansicht, seinen Beschäftigten all dies bereits zu bieten.

Der Bezos-Konzern brüstet sich in einer Stellungnahme zum Thema mit einem der im Branchenschnitt höchsten Löhne, umfassenden Nebenleistungen ab dem ersten Tag im Job sowie Karrieremöglichkeiten und einem sicheren und modernen Arbeitsumfeld. Tatsächlich hat Amazon seine Bezahlung in den USA deutlich angehoben, doch gerade in den Logistikzentren klagen Beschäftigte immer wieder über das hohe und strapaziöse Arbeitspensum sowie über angebliche Überwachung.

Auch in Deutschland sind die Arbeitsbedingungen bei Amazon ein Streitthema. Seit 2013 wird immer wieder gestreikt – ohne dass es in dem festgefahrenen Konflikt zu greifbaren Ergebnissen gekommen wäre. Aktuell hat die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi die Beschäftigten an sechs Standorten zu einem viertägigen Ausstand vor Ostern aufgerufen. Amazon hat also nicht nur in den USA Ärger wegen der Arbeitsbedingungen. Aber hier stehen sich die Parteien besonders feindlich gegenüber, wie sich etwa in den letzten Tagen zeigte. Auf der Zielgeraden wurde der Wahlkampf noch einmal so richtig schmutzig – und zwar im wahrsten Sinne des Wortes.

«Mitarbeitern 15 Dollar Stundenlohn zu zahlen, macht einen nicht zu einem «fortschrittlichen Arbeitsplatz», wenn man gegen Gewerkschaften vorgeht und Beschäftigte in Wasserflaschen urinieren», twitterte Marc Pocan am Mittwoch. Damit spielte der Abgeordnete der demokratischen Partei auf seit Jahren kursierende Berichte an, denen zufolge einige Amazon-Lieferfahrer aufgrund der enormen Arbeitsbelastung mitunter keine Zeit finden, auf die Toilette zu gehen. Der Konzern schoss in ungewöhnlich scharfem Ton zurück: «Sie glauben nicht wirklich die Sache mit dem in die Flasche pinkeln?», konterte Amazon umgehend via Twitter. «Wenn das wahr wäre, würde niemand für uns arbeiten.»

Doch damit nahm die ganze unappetitliche Debatte erst richtig Fahrt auf. Amazons brüske Reaktion rief unter anderem einen Journalisten von «Buzzfeed» auf den Plan, der Dienstanweisungen einer für Amazon tätigen Lieferfirma ins Netz stellte, in denen Fahrer dazu aufgerufen wurden, «Urinflaschen» nach Schichtende aus ihren Vans zu entsorgen. Noch derber wurde es am nächsten Tag, als das Investigativportal «The Intercept» geleakte Dokumente einer Amazonlogistics-Managerin postete, in denen unter anderem klargestellt wird, dass keine Tüten mit «menschlichen Fäkalien» in den Lieferzentren geduldet werden. Amazon äußerte sich dazu auf Nachfrage zunächst nicht.

Die Auseinandersetzung darüber, wo und wie Lieferfahrer ihre Notdurft verrichten, dürfte sich das Unternehmen so kurz vor dem Ende der Abstimmung gern erspart haben. Die ganze hässliche Diskussion im Internet mag bezeichnend sein, doch einer Analyse der Washingtoner Denkfabrik Brookings nach geht es in Bessemer um viel mehr als Arbeitsbedingungen. Sollten sich die Mitarbeiter der RWDSU anschließen, wäre dies «einer der größten Siege der Gewerkschaften im Süden seit Jahrzehnten, der die Arbeiterbewegung wachrütteln und weit über Alabama hinaus inspirieren könnte», heißt es in der Studie. Die Abstimmung drehe sich auch stark um Würde und Gleichberechtigung.

Bei Amazon in Bessemer seien geschätzte 85 Prozent der Mitarbeiter Schwarze, die in den USA ohnehin einen überproportionalen Anteil der «Frontline Worker» ausmachten, die in der Pandemie unsichere, aber gesellschaftlich wichtige Jobs im Niedriglohnsektor ausführten. Während diese Menschen in der Corona-Krise ihre Leben riskierten, habe Amazon seinen Profit 2020 um 84 Prozent und seinen Aktienkurs um 82 Prozent gesteigert, schreiben die Brookings-Forscher. Das Privatvermögen von Jeff Bezos sei im Corona-Jahr um 67,9 Milliarden Dollar gewachsen – das sei das 38-fache der gesamten Gefahrenzulagen, die Amazon seinen Beschäftigten in der Pandemie gezahlt habe.

Von Hannes Breustedt, dpa