Großbritanniens Premier Boris Johnson hat Hoffnungen auf ein Weihnachten ohne Engpässe an Tankstellen und Supermarktregalen gedämpft. Er teile die Einschätzung von Finanzminister Rishi Sunak, dass die Krise noch bis in die Festtage andauern könnte, sagte Johnson in einem BBC-Interview.
Gleichzeitig gab der Premier zu, dass sich ein Mangel an Lastwagenfahrer schon seit Langem abgezeichnet hatte. Autofahrer in Großbritannien haben derzeit große Schwierigkeiten, an Benzin oder Diesel zu kommen, weil es nicht genügend Lastwagenfahrer gibt. Vor den Tankstellen bilden sich lange Schlangen, an vielen ist auch gar nichts mehr zu bekommen. Besonders in London und im Südosten des Landes ist die Lage angespannt.
In Schottland sowie im Norden Englands sei die Krise hingegen so gut wie vorüber, berichtete die BBC am Sonntag unter Berufung auf den Tankstellenverband Petrol Retailers Association. Wegen des EU-Austritts (Brexit) haben viele Trucker das Land verlassen und sind auf den europäischen Kontinent zurückgekehrt.
Parteitag in Manchester
Die Kraftstoffkrise droht auch, den seit Sonntag laufenden Parteitag der Konservativen in Manchester zu überschatten, bei dem Johnson die Erholung der Wirtschaft nach der Pandemie in den Mittelpunkt rücken wollte.
Für Verwunderung bei Deutschen im Land sorgt eine verzweifelt wirkende Briefkampagne, bei der offenbar wahllos Menschen mit entsprechenden Führerscheinen aufgerufen wurden, sich ans Steuer eines Lkw zu setzen – auch wenn sie das zuvor noch nie getan haben. Weil bei Führerscheinen der Klasse 3, die in Deutschland bis 1999 ausgegeben wurden, auch das Fahren eines Lasters bis 7,5 Tonnen erlaubt ist, erhielten einem Bericht des «Independent» zufolge Tausende Deutsche entsprechende Schreiben.
Absage an ausländische Arbeitskräfte
Trotz der Engpässe will Johnson Forderungen nach einer Lockerung der nach dem Brexit verschärften Einwanderungsregeln nicht nachgeben. «Was wir nicht wollen, ist zurückzukehren zu einer Situation, in der die Logistikbranche sich auf eine Menge Einwanderung günstiger Arbeitskräfte stützt», sagte Johnson beim Besuch eines Krankenhauses in Leeds am Samstag. Das habe nämlich zur Folge, «dass die Gehälter nicht steigen und die Qualität der Arbeitsplätze nicht zunimmt». Die britische Wirtschaft müsse ihre Abhängigkeit von schlecht bezahlten ausländischen Arbeitskräften beenden, um eine «gut bezahlte, gut ausgebildete, hochproduktive Volkswirtschaft» zu werden.
In Großbritannien fehlen derzeit Schätzungen zufolge etwa 100.000 Lastwagenfahrer. Das führte auch bereits zu leeren Regalen in Supermärkten. Auch in anderen Branchen, beispielsweise in der Fleischindustrie, gibt es einen erheblichen Mangel an Fachkräften. Arbeitnehmer aus östlichen EU-Staaten sind seit dem Entschluss der Briten zum Austritt aus der EU in großer Zahl abgewandert.
Zumindest kurzfristig will London aber auf ausländische Fachkräfte zurückgreifen. Um den Kraftstoffmangel in den Griff zu bekommen, kündigte die Regierung am Samstag an, die Fristen für die bereits geplanten Arbeitsvisa zu verlängern. So sollen Visa für 300 Tanklastfahrer umgehend ausgestellt werden und bis März gelten.
Befristetes Angebot
Insgesamt sollen von Ende Oktober an 5000 ausländische Fernfahrer für eine befristete Dauer ins Land gelockt werden. Statt bis Weihnachten sollen sie nun bis Februar bleiben können. Ob das befristete Angebot bei polnischen und anderen osteuropäischen Fahrern auf Interesse stößt, wird von Verbänden auf dem Kontinent jedoch bezweifelt. Bereits von Montag an sollen etwa 200 britische Militärangehörige, darunter 100 Lkw-Fahrer, beim Verteilen von Kraftstoff helfen.
«Es ist schön zu wissen, dass es noch immer Job-Perspektiven hier für uns nach dem Brexit gibt», sagte ein 41-jähriger Deutscher, der mit seiner Frau in London lebt, dem «Independent» mit Blick auf die Briefaktion. «Wären wir nach Deutschland gegangen, wären wir wohl niemals als Lastwagenfahrer von Headhuntern angeworben worden.» Vorerst wolle er seinen Job bei einer Investmentbank jedoch behalten. Für Empörung sorgte, dass die Briefe Berichten zufolge auch an Tausende Mitarbeiter der Rettungsdienste und Feuerwehr gingen. Das, obwohl immer wieder erschreckende Statistiken über Wartezeiten bei Notfallaufnahmen veröffentlicht werden.
Auch in Deutschland ist die Situation nach Angaben der Branche ernst. Schätzungen zufolge fehlten 60 000 bis 80 000 Fahrer, sagte Dirk Engelbrecht vom Branchenverband BGL jüngst im Deutschlandfunk.
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