In vielen Berufsfeldern funktioniert der Arbeitsmarkt in Deutschland längst nur dank Menschen mit ausländischen Wurzeln – und trotzdem wächst die Fachkräftelücke. Dem Arbeits- und Fachkräftemangel will die Regierung mit ihrer Reform des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes entgegenwirken. Was der dritte Teil des Reformpakets bringt, der an diesem Samstag in Kraft tritt:
Wie viele Fachkräfte fehlen in Deutschland?
Sieben Millionen Fachkräfte müssten wegen des Älterwerdens der Gesellschaft bis 2035 ersetzt werden, sagte Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) neulich bei einem Fachkräftekongress der Regierung unter Berufung auf das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung. Besonders gravierend ist der Mangel beispielsweise in der Pflege und der Gastronomie. IT-Fachleute fehlen in vielen Unternehmen und auch in den Behörden. Wegen des mageren Verlaufs der Konjunktur waren bei der Bundesagentur für Arbeit im März zwar nur noch 707.000 offene Stellen gemeldet, 70.000 weniger als vor einem Jahr.
Doch längerfristig erwartet Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne), dass wohl immer mehr Stellen und Ausbildungsplätze zunächst offen bleiben. Diese besetzen zu können, entscheide perspektivisch darüber, «ob Deutschland wächst und der Wohlstand im Lande sich mehren kann beziehungsweise erhalten wird». Heute hat rund ein Viertel aller Erwerbstätigen einen Migrationshintergrund – ein überdurchschnittlich hoher Anteil etwa in Reinigungsberufen und der Gastronomie.
Was ist ab dem 1. Juni neu?
Die mit dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz im vergangenen Jahr beschlossene Chancenkarte tritt in Kraft. Sie richtet sich an Menschen, die nicht aus der Europäischen Union stammen. Dieses neue Instrument im Aufenthaltsgesetz soll den Zuzug von qualifizierten Arbeitskräften nach Deutschland erleichtern. Ein Vertrag mit einem Arbeitgeber in Deutschland ist hier keine Voraussetzung.
Ausgeweitet werden ab dem 1. Juni außerdem die Möglichkeiten für Arbeitskräfte aus den Westbalkanstaaten, für einen Job nach Deutschland zu kommen. Davon können auch Ungelernte profitieren. Allerdings müssen alle, die über die sogenannte Westbalkanregelung einreisen wollen, vorab einen Arbeitsvertrag nachweisen.
Wie funktioniert die Chancenkarte?
Grundvoraussetzung ist eine mindestens zweijährige Berufsausbildung oder ein Hochschulabschluss im Herkunftsland sowie Sprachkenntnisse in Deutsch oder Englisch. Je nach Sprachkenntnis, Berufserfahrung, Alter und Deutschlandbezug bekommen Interessierte Punkte, die sie zum Erhalt der Chancenkarte berechtigen.
Auch für Qualifikationen in Engpassberufen gibt es Punkte. Mit der Karte können Nicht-EU-Ausländer dann nach Deutschland kommen und haben dann ein Jahr lang Zeit, sich einen festen Job zu suchen. Unter bestimmten Voraussetzungen ist eine einmalige Verlängerung um zwei Jahre möglich.
Und was ist neu bei der Westbalkanregelung?
Diese Regelung erleichtert den Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt für Staatsangehörige aus Albanien, Bosnien und Herzegowina, dem Kosovo, Nordmazedonien, Montenegro und Serbien. Bislang werden für Arbeitskräfte aus diesen Staaten, die eine Jobzusage haben, von der Bundesagentur für Arbeit pro Jahr 25.000 Genehmigungen vergeben. Dieses Kontingent soll auf 50.000 Zustimmungen jährlich verdoppelt werden.
Gibt es das Gesetz nicht schon länger?
Tatsächlich hat Deutschland schon seit März 2020 ein Fachkräfteeinwanderungsgesetz, das die schwarz-rote Koalition beschlossen hatte, um den Zuzug von qualifizierten Arbeitskräften aus Nicht-EU-Staaten zu fördern. Nach Einschätzung von Experten blieb seine Wirkung einerseits wegen der Reisebeschränkungen durch die Corona-Pandemie, andererseits wegen des nach wie vor hohen bürokratischen Aufwands für die Erwerbsmigranten begrenzt.
Im vergangenen November trat dann der erste Teil der von der Ampel-Koalition beschlossenen Reform des Gesetzes in Kraft. Die erste Stufe umfasste vor allem Erleichterungen bei der «Blauen Karte EU» und bei anerkannten Fachkräften.
Und was gilt seit März?
Die Aufenthaltsmöglichkeit für Ausländer aufgrund berufspraktischer Erfahrung – ein Herzstück des Gesetzes zur Fachkräfteeinwanderung. Fachkräfte mit Abschluss und Berufserfahrung können ohne vorheriges Anerkennungsverfahren einreisen und in Deutschland arbeiten. Sie müssen also noch keine in Deutschland anerkannte Ausbildung vorweisen. Das soll Bürokratie einsparen und Verfahren verkürzen.
Das Arbeitsplatzangebot in Deutschland muss ein Bruttojahresgehalt von mindestens 40.770 Euro zusichern – bei Tarifbindung des Arbeitgebers genügt eine Entlohnung entsprechend dem Tarifvertrag. Zur Deckung von zeitweilig besonders hohem Arbeitskräftebedarf wurde eine begrenzte kurzzeitige Beschäftigung ermöglicht. Die Bundesagentur für Arbeit hat hierfür für das Jahr 2024 ein Kontingent von 25.000 festgelegt.
Werden die Reformen mehr Arbeitskräfte zu uns locken?
Für eine Bewertung der Wirkung ist es noch zu früh, da die Neuerungen erst kurz gelten. Allerdings gibt es neben den teils hohen Anforderungen und bürokratischen Hindernissen noch andere Hemmnisse, die Erwerbsmigranten von einem Umzug nach Deutschland abhalten.
«Angesichts des eklatanten Arbeitskräftemangels von über 400.000 Menschen pro Jahr ist die Chancenkarte in erster Linie eine Chance für Deutschland», meint die Grünen-Innenpolitikerin Misbah Khan. Es liege nun an Deutschland als Gesellschaft und Wirtschaftsstandort, die neuen gesetzlichen Änderungen mit Leben zu füllen und als Einwanderungsland noch attraktiver zu werden.
Was schreckt Migranten außer der Sprache noch ab?
Im Vergleich zu anderen klassischen Einwanderungsländern ist die Steuern- und Abgabenlast in der Bundesrepublik relativ hoch. Das schreckt besonders Hochqualifizierte ab. Außerdem hat sich inzwischen herumgesprochen, dass es in einigen Ballungsgebieten schwierig ist, bezahlbaren Wohnraum zu finden. Aus einigen Kommunen war zuletzt zu hören, Vermieter würden bei neu zuwandernden ausländischen Interessenten teilweise nach einer Bürgschaft des Arbeitgebers fragen.
Könnte es demnächst noch weitere Reformen geben?
«Wir sind als Gesetzgeber aber auch noch nicht ans Ende gekommen», meint Ann-Veruschka Jurisch, Innenexpertin der FDP im Bundestag. «Wir haben uns vorgenommen, das Ausländerrecht zu vereinfachen; das bleibt weiterhin eine offene Aufgabe», sagt die Abgeordnete.
Große Hoffnungen setzt sie in die Nutzung Künstlicher Intelligenz bei der Bearbeitung von Anträgen potenzieller Erwerbsmigranten. Das Auswärtige Amt leiste hier bereits Pionierarbeit. Das sei auch notwendig – heutige Wartezeiten von über einem Jahr könne sich Deutschland nicht leisten.
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