21. November 2024

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Chemiebranche erwartet weiter kräftig sinkende Produktion

Die rasant gestiegenen Energiekosten hatten die Branche bereits 2022 belastet. Nun hofft die Branche auf eine Stabilisierung. Denn manche Bedingungen haben sich verbessert.

Nach der Explosion der Energiepreise und einem Produktionseinbruch im vergangenen Jahr hofft die deutsche Chemie- und Pharmaindustrie, bald das Schlimmste überstanden zu haben. Mit den zuletzt wieder deutlich gesunkenen Gaspreisen habe sich die Lage aufgehellt, sagte Wolfgang Große Entrup, Hauptgeschäftsführer des Verbands der Chemischen Industrie (VCI), in Frankfurt.

Doch Industriekunden hielten sich zurück. «In der Chemieindustrie fehlen die Aufträge.» Eine kraftvolle Erholung sei anders als in der Corona-Pandemie oder nach der globalen Finanzkrise unwahrscheinlich.

Für dieses Jahr erwartet die Chemie- und Pharmabranche, dass die Produktion um fünf Prozent sinkt gemessen am Vorjahr, das vor dem Ukraine-Krieg ordentlich begonnen hatte. Der Branchenumsatz dürfte bei fallenden Preisen um sieben Prozent schrumpfen, teilte der VCI heute mit. Die konjunktursensible Chemie alleine dürfte es härter treffen: Hier rechne man mit einem Produktionsrückgang von acht Prozent und einem Umsatzminus von zehn Prozent.

Trotz des Rückgangs der vergangenen Monate seien die Energiepreise im internationalen Vergleich noch «astronomisch», betonte Große Entrup. Mancher Mittelständler müsse mit chinesischen Strompreisen von 1,5 bis 2 Cent je Kilowattstunde konkurrieren, während der Strompreis für die Industrie hierzulande bei 13 Cent gedeckelt sei. Große Entrup forderte weniger Vorschriften und einen Industriestrompreis zwischen 5 und 10 Cent. Deutschland sei im harten Standortwettbewerb mit den USA, die mit Milliarden-Subventionen locken.

Starker Einbruch mit Folgen

Im vergangenen Jahr hatte die Chemie- und Pharmabranche die schwache Konjunktur und rasant gestiegene Energiekosten, besonders für Gas, zu spüren bekommen. Die Produktion schrumpfte zum Vorjahr um 6,6 Prozent und die der energieintensiven Chemie allein um fast 12 Prozent.

Nur dank höherer Preise wuchs der Branchenumsatz um fast 17 Prozent auf 265 Milliarden Euro. Im Schlussquartal beschleunigte sich die Talfahrt, die Chemieproduktion ohne Pharma brach im Dezember binnen Jahresfrist um rund 30 Prozent ein – tiefer als in der globalen Finanzkrise. «Viele Anlagen stehen still, und die Frage ist, ob sie jemals wieder angeworfen werden», sagte Große Entrup.

Für die Beschäftigung hierzulande hat die Krise Folgen. Der Branchenriese BASF legt wegen der teuren Energie mehrere Anlagen im Stammwerk Ludwigshafen still, darunter eine der beiden Ammoniak-Anlagen. Rund 700 Stellen in der Produktion sind von den Einschnitten betroffen. Zudem will BASF unterm Strich 2600 Jobs etwa in Service- und Forschungsbereichen sowie der Zentrale streichen.

Auch der US-Chemiekonzern Dow, der in Deutschland rund 3600 Menschen beschäftigt, will dieses Jahr Stellen streichen. Geplant ist der Abbau von rund 2000 Jobs – vor allem in Europa sollen Anlagen geschlossen werden. Dem Essener Spezialchemiekonzern Evonik und dem Leverkusener Kunststoffunternehmen Covestro macht teure Energie ebenfalls zu schaffen. Sie erwarten 2023 einen Gewinnrückgang. Evonik-Chef Christian Kullmann setzt auf Einsparungen von 250 Millionen Euro. Evonik verzichtet unter anderem für sechs Monate auf die Neubesetzung von Stellen, die nicht absolut nötig sind.

Ein kleiner Hoffnungsschimmer

Allerdings haben sich die schlimmsten Prognosen der Branche nicht bewahrheitet. So hatte etwa BASF-Chef Brudermüller wiederholt vor verheerenden Folgen eines Gas-Boykotts gegen Russland nicht nur für den Konzern, sondern für die gesamte deutsche Wirtschaft gewarnt. Auch der VCI hatte mehrfach Alarm geschlagen, bei einem Gasmangel würden die Prozesse in der Chemieindustrie zusammenbrechen und eine Kettenreaktion bei den vielen Industriekunden auslösen. «Wir sind im Winter mit einem blauen Auge davongekommen», sagte nun Große Entrup.

Auch ist die Beschäftigung stabil geblieben – allen Warnungen vor der Abwanderung von Betrieben zum Trotz. 2022 waren laut VCI rund 475.500 Menschen in der Branche beschäftigt, 0,5 Prozent mehr als im Vorjahr.

Denn zum befürchteten Horrorszenario eines Gasmangels kam es nie, am Mittwoch waren die deutschen Gasspeicher zu rund zwei Dritteln gefüllt, auch wegen des milden Winters. BASF-Chef Brudermüller sagte jüngst, er habe nicht erwartet, dass die Terminals für Flüssigerdgas an den deutschen Küsten so schnell fertig würden.

Auch dank der gut gefüllten Speicher hat sich europäisches Erdgas an den Börsen kräftig verbilligt. Zuletzt kostete Gas im Großhandel zur Auslieferung im nächsten Monat rund 42 Euro je Megawattstunde – ein Tief seit August 2021. Im Zuge des Ukraine-Kriegs waren in der Spitze mehr als 300 Euro fällig. Forscher der Universität Köln halten es für möglich, dass die Großhandelspreise bis 2030 wieder das Niveau der 2010er Jahre von unter 20 Euro je Megawattstunde erreichen.

Auch das Ifo-Institut sieht die Chemie im Aufwind. Die Branche blicke wieder etwas zuversichtlicher in die Zukunft, und die Versorgung mit Vorprodukten habe sich spürbar verbessert, erklärte Branchenexpertin Anna Wolf am Donnerstag. Jedoch bleibe die Nachfrage schwach, der Auftragsbestand sinke, und aus dem Export würden keine Impulse erwartet. «Über den Berg ist die chemische Industrie noch nicht.»

Von Alexander Sturm, dpa