Viele Gaslieferanten bieten sogenanntes klimaneutrales Erdgas an, oft auch Klimagas genannt. Wählen Verbraucher einen solchen Tarif, unterstützt das Unternehmen Klimaschutzprojekte in aller Welt. «Wir kompensieren so das CO2, das du durch deinen Erdgasverbrauch freisetzt», wirbt etwa ein Unternehmen. Solche Werbeaussagen hat das Recherchenetzwerk Correctiv in vielen Fällen jetzt in Zweifel gezogen. Solche Gastarife und -produkte seien oft weit weniger grün als versprochen. Hunderttausende Kundinnen und Kunden seien getäuscht worden.
Was kritisiert Correctiv genau?
Unter Berufung auf Wissenschaftler wirft Correctiv bestimmten Gasversorgern vor, zweifelhafte CO2-Gutschriften aus Klimaschutzprojekten genutzt zu haben. Diese Projekte könnten nicht plausibel nachweisen, dass Emissionen tatsächlich reduziert oder eingespart wurden. «Beispielsweise wird weniger Wald geschützt als angegeben, weniger Emissionen als berechnet werden eingespart oder das Projekt wäre auch ohne die Einnahmen aus dem Verkauf von CO2-Gutschriften zustande gekommen», berichtete Correctiv am Dienstag. Überschrieben hat das Recherchenetzwerk seinen Bericht mit «Die Ökogas-Lüge».
Um wie viele Unternehmen geht es?
Überprüft wurden laut Correctiv die CO2-Gutschriften von 150 deutschen Gasversorgern zwischen 2011 und 2024 mit einem Volumen von insgesamt 16 Millionen Tonnen. 116 von ihnen sollen in diesem Zeitraum zweifelhafte CO2-Gutschriften genutzt haben. Somit könnten über die Jahre insgesamt gut 10 Millionen Tonnen weniger CO2-Emissionen ausgeglichen worden sein als von den Versorgern gegenüber Kunden behauptet, so Correctiv. Zur Einordnung: Allein 2022 wurden laut Landesumweltamt in Nordrhein-Westfalen Treibhausgase freigesetzt, die der Menge von 217 Millionen Tonnen Kohlendioxid entsprechen. In Deutschland gab es laut Bundesnetzagentur Ende 2022 mehr als 1100 Gaslieferanten.
Mit welchen Projekten werden CO2-Emissionen kompensiert?
Neben Waldschutzprojekten werden unter anderem auch Gaskraftwerke herangezogen. Mehrere Kraftwerke aus Indien, China und Singapur seien von der Nichtregierungsorganisation Verra offiziell als Klimaschutzprojekte gelistet werden, so Correctiv. Deren CO2-Gutschriften tauchten in den Portfolios von acht Gasversorgern auf. Verra betreibt laut Correctiv ein großes Register für Kompensationsmaßnahmen. In einem Fall in Indien wird die Anrechnung laut Correctiv beispielsweise damit begründet, dass ohne den Bau dieses Gaskraftwerks ein emissionsintensiveres Kraftwerk gebaut worden wäre. «Den Einsatz von fossilem Gas kann man nicht durch den Einsatz von fossilem Gas an anderer Stelle rechtfertigen», erklärte dazu Carsten Warnecke von New Climate Institute in Köln.
Was sagen die Unternehmen dazu?
Correctiv hat auch bei den Unternehmen nachgefragt. Als Reaktion auf die Recherche kündigte etwa der Kölner Versorger Rheinenergie an, von den Zertifizierern konkrete Projektüberprüfungsverfahren zu verlangen. «Bis zum Vorliegen von Ergebnissen werden wir unser Angebot für Geschäftskunden pausieren und keine neuen Kompensationsvereinbarungen mehr treffen», sagte ein Unternehmenssprecher dem «Kölner Stadt-Anzeiger». Das Ökogas-Angebot der Rheinenergie würden derzeit lediglich zwei Prozent der Geschäftskunden nutzen. Derartige Angebote für Privatkunden gebe es seit drei Jahren nicht mehr, sagte der Sprecher der Zeitung.
Welche Rolle spielt Klimagas für Verbraucherinnen und Verbraucher?
Nach Angaben des Vergleichs- und Vermittlungsportals Verivox gibt es zahlreiche Anbieter, die Klimagas anbieten. «In 2023 haben knapp 40 Prozent unserer Kundinnen und Kunden einen Klimagas-Tarif abgeschlossen», sagte ein Verivox-Sprecher. Allerdings seien diese Tarife häufig unter den günstigsten Angeboten, sodass weniger die Klimakennzeichnung, sondern vielmehr der Preis ein entscheidendes Kriterium bei der Tarifwahl sein dürfte. Die Zahl der Kunden, die ihre Sucheinstellungen vor einem Tarifabschluss aktiv auf «Klimagas» gesetzt hätten, liege im einstelligen Prozentbereich. Der Verivox-Sprecher betonte, als Vergleichsportal nicht für die Zertifizierung von Klimagas zuständig zu sein. «Sollte ein Anbieter seine Kennzeichnung verlieren, dann entfernen wir diese selbstverständlich auch aus unserem Vergleich.»
Auch das Portal Check24 betonte, dass in den Vergleichen nur die Angaben der Unternehmen zu ihren Tarifen abgebildet würden. Man habe keinen Einblick in die tatsächliche CO2-Kompensation, sagte ein Sprecher. Das Portal will die Recherchen von Correctiv zum Anlass nehmen, sämtliche eigenen Formulierungen zum Thema Klimagas auf seinen Seiten zu überprüfen.
An dem Rechercheprojekt war auch die Deutsche Umwelthilfe (DUH) beteiligt. Was hat der Verband jetzt vor?
Die DUH hat nach eigenen Angaben am Dienstag deutschlandweit 15 Gasversorger aufgefordert, ihre Werbung für klimaneutrales Erdgas zu beenden. Die Firmen sollen Unterlassungserklärungen unterzeichnen. Der Verband wirft den Unternehmen Verbrauchertäuschung vor. Die zur Kompensation herangezogenen Projekte seien in allen Fällen untauglich, um die versprochene Klimaneutralität herzustellen. «Die Projekte laufen, sofern zur Kompensation Waldprojekte verwendet werden, nicht ansatzweise so lange, wie für die Gewährleistung einer Klimaneutralität erforderlich», teilte die DUH mit.
Wie reagieren die Unternehmen darauf?
Unter den 15 Unternehmen ist auch Deutschlands größter Energieversorger Eon. Ein Sprecher sagte, dass bei Eon bislang keine Unterlassungserklärung der Deutschen Umwelthilfe eingegangen sei. Zum Thema Zertifikate sagte er, dass Eon für die Nutzung von Kompensationszertifikaten 2022 einen internen und konzernweiten Mindestqualitätsstandard definiert habe. «Die Qualitätsrichtlinie stellt sicher, dass die genutzten Zertifikate von hoher Integrität sind.» Nach einer Übergangsphase dürften Eon-Einheiten nur noch Zertifikate erwerben, die den Qualitätsstandards dieser Leitlinie entsprächen. «Alle von uns unterstützten Klimaschutzprojekte sind registriert und extern zertifiziert.» Damit orientiere sich Eon an weltweit üblichen Standards.
Was sagen Verbraucherschützer?
Beim Verbraucherzentrale Bundesverband hieß es, dass man bereits seit einiger Zeit mit Unterlassungsverfahren gegen wettbewerbswidrige sogenannte Green Claims vorgehe. In diesem Zusammenhang gebe es auch mehrere Verfahren gegen Energieversorger wegen Werbung mit dem Begriff «klimaneutral». «Im Wesentlichen geht es dabei um die unserer Meinung nach irreführend geringe Informationsdichte, die sich auf die geschäftliche Entscheidung auswirkt», hieß es. Abschließende gerichtliche Entscheidungen gebe es in den Verfahren nur wenige. Der Verband treibe das Thema weiter voran.
Ist auch Biogas von der Kritik betroffen?
Nein. Es geht ausschließlich um Ausgleichsmaßnahmen für die Verbrennung von fossilem Erdgas. Biogas wird bei der Vergärung von Biomasse gewonnen. Aus Biogas kann reines Biomethan gewonnen werden, das in das Erdgasnetz eingespeist werden kann. Biogas gilt als klimaneutral: Die CO2-Mengen, die bei der Verbrennung freigesetzt werden, wurden zuvor von den Pflanzen aus der Atmosphäre aufgenommen.
Was sagt die Gaswirtschaft zu der Recherche?
CO2-Kompensationsprojekte können helfen, die globalen Klimaschutzziele zu erreichen, hieß es aus der Gaswirtschaft. «Wesentlich ist, dass die Emissionsminderungen aus den Kompensationsprojekten zusätzlich zu den sonstigen Klimaschutzbestrebungen erfolgen, sodass sich insgesamt die Emissionen verringern.» Die Kompensation von Treibhausgas-Emissionen sei nicht gleichbedeutend mit Klimaneutralität, hieß es weiter. Akteure müssten in der Kommunikation klar zwischen diesen Begriffen unterscheiden. Für die Branche stehe CO2-Vermeidung stets im Vordergrund vor der Kompensation von Treibhausgasemissionen.
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