Radtouren statt Mittelmeer-Urlaub und die Angst vor Ansteckungen im öffentlichen Nahverkehr – die Gründe für den Fahrradboom in Deutschland liegen in Corona-Zeiten auf der Hand.
Die Menschen kauften im vergangenen Jahr vor allem hochwertige und teure E-Bikes in Rekordstückzahlen, wie die Branchenverbände ZIV (Industrie) und VDZ (Handel) am Mittwoch in Frankfurt bestätigten. Auch im laufenden Jahr rechnen die Fachleute mit einer hohen Nachfrage. Erneute Lieferengpässe konnten sie nicht ausschließen.
Vor allem E-Bikes haben im Jahr 2020 das Geschäft angetrieben, das von Lockdowns nur kurzzeitig gestört wurde. Nach den ZIV-Erhebungen hatten von den verkauften 5,04 Millionen Rädern 1,95 Millionen einen E-Antrieb. Die sogenannten Pedelecs bildeten so mit fast 39 Prozent das größte Segment im Verkauf. Mittelfristig rechnet die Branche damit, dass jedes zweite neue Fahrrad einen Motor haben wird. Der Trend gehe dabei zu immer sportlicheren Modellen in allen Segmenten.
Der Umsatz kletterte um 60,9 Prozent auf 6,44 Milliarden Euro. Während die Stückzahl der übrigen Fahrräder bei 3,1 Millionen nahezu stagnierte, erzielten die E-Bikes im Vergleich zum Vorjahr einen Zuwachs um 43 Prozent. Sie trieben auch den Durchschnittspreis für sämtliche Räder in der Jahresfrist um rund 300 Euro auf 1279 Euro. Im Handel wechselten E-Bikes zu einem Durchschnittspreis von fast 3000 Euro den Besitzer, wie Thomas Kunz vom Handelsverband Zweirad (VDZ) berichtete.
Nicht immer bekamen die Kunden im vergangenen Jahr ihr Wunschmodell, wie Kunz einräumte. Auch in den Werkstätten kam und kommt es zu langen Wartezeiten. Die Händler hätten ihre Geschäfte im Herbst annähernd leer verkauft. Für das laufende Jahr verfüge man aber wieder über volle Lager. «Industrie und Handel haben alles in Bewegung gesetzt, um eine möglichst gute Warenversorgung in der kommenden Fahrradsaison zu gewährleisten.» Die Kunden sollten sich aber bei mehreren Händler umschauen und sich nicht auf ein einziges Modell festlegen.
Aktuell schwächelt der Rahmen-Nachschub aus Asien, erklärte Industrievertreter Ernst Brust. Auch weitere Fahrrad-Komponenten könnten wegen knapper See-Container verspätet eintreffen. Der deutsche E-Motoren-Produzent Brose berichtet von ähnlichen Engpässen wie in der Auto-Industrie: «Probleme bereiten uns derzeit die Hersteller von Mikrochips, beziehungsweise deren Vorlieferanten, die ihre Produktion nicht entsprechend der Marktentwicklung steigern können», sagte der Leiter E-Bike-Systeme, Thomas Leicht, in Berlin.
Die Händler hadern mit dem Umstand, dass sie wegen der Corona-Beschränkungen noch nicht in allen Bundesländern loslegen können. Um den bevorstehenden Ansturm auf neue Bikes zu entzerren, sollten die Fahrradgeschäfte unabhängig von der Corona-Inzidenz öffnen dürfen, verlangte Kunz. Man wundere sich schon sehr über die sehr unterschiedlichen Bestimmungen, denn immerhin ermöglichten Fahrräder eine infektionssichere Mobilität. Zudem bedeuteten die vollen Lager für die Betriebe auch eine sehr hohe Kapitalbindung.
Der Allgemeine Deutsche Fahrrad-Club (ADFC) begrüßt zwar die «tolle Entwicklung», dass im Krisenjahr so viele Menschen neu aufs Rad gestiegen seien. Die Infrastruktur könne da aber bei weitem nicht mithalten, kritisierte Verkehrsexpertin Stephanie Krone in Berlin: «Die Radwegenetze waren schon vor der Krise katastrophal, deshalb verschärfen sich jetzt die Probleme bei zunehmendem Radverkehr.»
Die Städte müssten jetzt das Fenster der Gelegenheit für den Ausbau der Radinfrastruktur nutzen. «Es ist so viel Geld wie noch nie vom Bund dafür da – und die Menschen gieren förmlich danach, mehr Rad zu fahren», sagte Krone. Das werde auch mit der Corona-Pandemie nicht enden. Seine neueste Umfrage zum Fahrrad-Klima in den deutschen Kommunen stellt der Verband am 16. März vor.
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