Carolin Horst filmt mit ihrem Handy einen Grauburgunder-Rebstock im rheinhessischen Oppenheim. Das Video lädt sie auf einen Server hoch und erhält auf ihrem Display einen digitalen Zwilling des Rebstocks. Der Stamm ist türkis eingefärbt, die einjährigen Triebe gelb und die älteren zweijährigen Fruchtruten grün. Die richtigen Positionen für den sanften Schnitt der Weinrebe leuchten orange. Dieser Produktprototyp für den von Künstlicher Intelligenz (KI) unterstützten Rebschnitt wird in der Fachwelt als vielversprechender Ansatz gesehen.
Denn so kann auch ein Ungeübter den Rebstock fachkundig nach der sanften Methode schneiden, für die es nach den Worten von Matthias Porten vom Dienstleistungszentrum Ländlicher Raum (DLR) Mosel, sonst viele Kurse und Fortbildung braucht. Außerdem fehlten immer öfter Fach- und Arbeitskräfte. «Der Weg muss deshalb in die autonome Richtung gehen.»
Sanfter Rebschnitt schützt vor Krankheiten
Warum ist der sogenannte wundarme oder sanfte Rebschnitt so wichtig? «Damit können Krankheiten wie Esca reduziert werden, die das Holz zerstören», erläutert Porten. Bei der Methode würden nur wenige Schnittwunden gesetzt, und der Saftfluss der Pflanze bleibe in je einer Leitungsbahn innen und außen am Stamm erhalten. «Das ist auch eine Prophylaxe zum Erhalt der Pflanzengesundheit, sodass dann weniger Pflanzenschutzmittel eingesetzt werden müssen», ergänzt Volker Wenghoefer aus dem rheinland-pfälzischen Ministerium für Weinbau.
Die Entwicklung solcher Entscheidungshilfen wie dem Prototyp sei eine wichtige Grundlage, um zeitintensive Arbeiten wie den Rebschnitt über robotische Systeme vollständig zu automatisieren, heißt es bei Professor Dimitris Paraforos im Institut für Technik der Hochschule im hessischen Geisenheim. Mit der Automatisierung des sanften Rebschnitts könne dieser gezielter angewandt werden und wäre dann auch bei der Produktion qualitativ hochwertiger Weine einsetzbar, ergänzt Stephan Krauß vom Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI). Krauß hat das Team der Rheinland-Pfälzischen Technischen Universität (RPTU) geleitet, das am Projekt KI-Rebschnitt mitgearbeitet hat.
Das Display eines Tablets zeigt die Punkte, an dem die Rebe beschnitten werden soll.
Aus der Forschung in die Praxis
Das Ministerium für Weinbau in Mainz hat das Projekt mit fast 1,2 Millionen Euro aus der Europäischen Innovationspartnerschaft gefördert. «Mit solchen nutzerfreundlichen Anwendungen gelangt Know-how aus der Forschung effektiv in die Praxis und trägt dazu bei, ökonomische und ökologische Nachhaltigkeit im Weinbau in Einklang zu bringen», sagt Ministerin Daniela Schmitt (FDP).
«Der Flaschenhals ist die Rechenzeit», sagt die Physikerin und Winzerin Carolin Horst, die auch an dem auf drei Jahre angelegten Projekt mitgearbeitet hat. Denn noch dauert es fast drei Minuten, bis die gefilmte Weinrebe als buntes 3D-Modell auf dem Bildschirm erscheint. «Vorgabe ist es aber, einen Rebstock in einer Minute zu schneiden», sagt ihr Kollege Dirk Hübener.
Methode bereits im Currikulum für angehende Winzer
Die noch vergleichsweise lange Rechenzeit sei aber kein grundsätzliches Problem, betont Horst. Denn: «Das Grundprinzip des sanften Rebschnitts hat man nach 10, 20 Stöcken drin.» Und sollte ein Arbeiter dann doch wieder vor einem ganz anders gewachsenen Stock stehen, könne er sich ja noch mal auf seinem Smartphone einen digitalen Vorschlag für den richtigen Schnitt machen lassen. Bernd Prior vom DLR Rheinhessen-Nahe-Hunsrück jedenfalls hat die für ihn überzeugende Methode bereits in seinen Unterricht angehender Winzer aufgenommen.
Hübener und Horst wollen die Methode mit ihrem aus dem Projektteam ausgegründeten Unternehmen 2farm für den Obstbaum-Schnitt weiterentwickeln. Zunächst haben sie sich Äpfelbäume in Ertragslagen vorgenommen. Gleichzeitig liefen Gespräche mit Maschinenherstellern darüber, den KI-Rebschnitt mit Robotern weiter zu automatisieren, berichtet Hübener. Seit 15 Jahren würden Schnittroboter entwickelt. «Der Knackpunkt ist aber bis heute die Bildverarbeitung.»
KI-Einsatz an vielen Stellen möglich
Ernst Büscher vom Deutschen Weininstitut sieht im KI-unterstützten Rebschnitt einen «Teil des Beginns einer spannenden technologischen Weiterentwicklung in der Weinbranche». Die Weinherstellung biete aufgrund ihrer hohen Komplexität viele Anknüpfungspunkte für den Einsatz von KI.
Deren Potenzial im Weinbau ist auch nach Auffassung von Paraforos und Krauß sehr hoch. Als Beispiele nennt Paraforos die Modellierung komplexer Bodenparameter, die Entwicklung von präziseren Schädlingsprognosen und Entscheidungshilfen für den Pflanzenschutz oder die Überwachung und Regelung maschineller Arbeiten im Weinberg, insbesondere wenn sie von autonomen Robotern durchgeführt würden.
Dass der Produktprototyp des KI-Rebschnitts noch nicht in Serie zu haben ist, hänge mit einem Schweizer Unternehmen zusammen, das ein sehr ähnliches Patent bereits vor fast vier Jahren angemeldet, aber noch nicht erteilt bekommen habe, sagt Hübener. Aber auch mit diesem Mitbewerber gebe es Gespräche.
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