21. November 2024

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Sechs Monate Krieg: Von Speichern, Turbinen und Sparappellen

Gasspeicher-Füllstände werden zur Nachricht, Turbinen zum Politikum, Kohlekraftwerke laufen weiter, und günstiges Bahnfahren ist nun möglich: Der Krieg in der Ukraine hat hierzulande vieles verändert.

Sechs Monate nach Beginn des russischen Angriffskriegs in der Ukraine sind die Auswirkungen auch für Verbraucher und Verbraucherinnen spürbar. Das gilt im Geldbeutel wie im Alltag – unter anderem an den neuen und alten Wörtern, über die plötzlich (wieder) gelesen und diskutiert wird. Eine Auswahl:

«Gasspeicher-Füllstand»

Gas kommt aus der Leitung, warm wird die Heizung. Doch der Krieg zeigt: Ganz so einfach ist es eben nicht. Und so schult das Volk der Hobby-Virologen um zu Energieexperten: Wie läuft die Wartung von Nord Stream 1, wie viel Gas ist schon im Speicher in Rehden? Komplexe Prozesse, die bisher abseits der Öffentlichkeit stattfanden, landen plötzlich unter dem Brennglas. Denn erst die russische Reduktion der Gaslieferungen zeigt, wie abhängig wir sind. Und es zeigt auch, wie anfällig das System aus Energiehändlern und -versorgern – und mit ihm die ganze Wirtschaft – für Störungen ist.

«Marktgebietsverantwortliche»

Neue Themen bringen neue Akteure hervor. Der bislang unauffällige Gasimporteur Uniper etwa gerät nach der Reduktion russischer Lieferungen derart in Schieflage, dass der Staat eingreift und per Umlage alle Bürger an den Kosten beteiligt. Was wiederum den Marktgebietsverantwortlichen Trading Hub Europe ins Rampenlicht stößt. Das Gemeinschaftsunternehmen der Netzbetreiber für Ferngas war bisher nur Eingeweihten ein Begriff – entscheidet nun aber darüber, welche zusätzliche Belastung auf Gaskunden zukommt.

«Streckbetrieb»

«Atomkraft? Nein Danke» – es war eine jahrelange gesellschaftliche Auseinandersetzung, an deren Ende der zweite Atomausstieg 2011 stand. Doch im Jahr 2022 wird nun ernsthaft wieder darüber diskutiert, ob die drei verbliebenen Atomkraftwerke in Deutschland weiter laufen sollen – und der Betrieb gestreckt werden soll? Ausgang weiter ungewiss, ein Stresstest läuft. Und dass ein grüner Wirtschaftsminister wieder mehr Kohlekraftwerke laufen lässt, um die Stromerzeugung zu sichern, war Anfang Februar 2022 ebenfalls noch undenkbar.

«Druschba-Pipeline»

Welches Öl in Deutschland durch welche Leitung kommt, wussten vor dem Krieg wohl nur Experten. Doch an der Frage hängen plötzlich Tausende Arbeitsplätze und die Treibstoffversorgung ganzer Regionen, etwa im Fall der Pipeline Druschba zur Raffinerie PCK im brandenburgischen Schwedt. Zum Höhepunkt der Diskussion um ein Ölembargo muss Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) hier sogar selbst anreisen, um Gemüter zu beruhigen. Inzwischen gilt das Embargo, die Suche nach alternativen Ölquellen für Schwedt läuft weiter.

«LNG»

Wenn das Gas nicht durch die Pipeline kommt, muss es halt per Schiff kommen, in flüssiger Form als sogenanntes LNG. Das scheiterte bisher am Preis und an den fehlenden Terminals in Deutschland. Doch die werden nun plötzlich in Rekordgeschwindigkeit aus dem Boden gestampft, schon zum Jahreswechsel sollen an manchen die ersten Gas-Tanker anlegen. Zukunftsfit sollen sie außerdem sein, für die Umrüstung auf klimafreundlichen Wasserstoff.

«Die Turbine»

So ernst Krieg und Krise sind – skurrile Blüten gibt es doch. Etwa dann, wenn ein ganzes Land sich auf einmal dafür interessiert, wo gerade eine Turbine von Siemens Energy ist, die für den Regelbetrieb der Gaslieferungen durch Nord Stream 1 angeblich immens wichtig ist. Deren Lieferung nach Wartung wird erst diplomatisches Thema zwischen Kanada und Deutschland, dann fordert Russlands Staatskonzern Gazprom immer neue Dokumente. Inzwischen steht das Gerät in Mülheim und bekam sogar Kanzler-Besuch. Bewegung ist aber weiter keine in Sicht. Berlin wirft Russland vor, technische und andere Gründe nur als Vorwand zu nutzen, um weniger Gas nach Deutschland und Europa zu liefern.

«Sonnenblumenöl»

Zu Beginn der Corona-Pandemie waren es Toilettenpapier und Nudeln, nach Ausbruch des Kriegs fehlten dann erneut Mehl und dann auch Sonnenblumenöl und teils Senf. Zumindest zwischenzeitlich musste man sich wieder an den Gedanken gewöhnen, dass nicht alles in allen Supermärkten immer vorrätig ist. Einzelhändler mussten sogar dazu aufrufen, nicht zu hamstern. Angst vor echten Engpässen oder leeren Bäcker-Theken muss in Deutschland weiter niemand haben – ganz im Gegensatz zu vielen ärmeren Ländern, die angesichts ausbleibender Lieferungen aus der Ukraine um Getreidelieferungen bangen müssen.

«Kabelbäume»

Kurz nach Beginn des Krieges standen unter anderem in BMW- und Porsche-Werken die Bänder still, es fehlten wichtige Kabelbäume aus der Ukraine. Die Probleme waren eher schnell beseitigt – doch der Fall zeigt, wie empfindlich eine vernetzte Weltwirtschaft auf Krisen reagiert. Zeit zum Umdenken? Auch in der Corona-Krise waren schon viele Wertschöpfungsketten ins Wanken geraten, und nun kommt die Neubewertung der Abhängigkeit von Russland hinzu. Die werden auch andere Verflechtungen, etwa mit China, unter die Lupe genommen.

«Sparappell»

Sinnvoll war Energiesparen schon immer, und sei es nur für den Kontostand – doch mit dem Versuch, schnellstmöglich unabhängig von russischem Gas zu werden, wird Sparsamkeit Staatsräson. Dass Politiker Auskunft zu ihrem Duschverhalten geben, ist nur der Anfang, auch die Außenbeleuchtung von Gebäuden und die Wassertemperatur in Schwimmbädern werden zum Thema. Und auch darüber, ob 19 Grad für Büros und Wohnungen nicht genug sind, wird wieder diskutiert.

«Inflationsangst»

Die Angst vor hoher Inflation sitzt in Deutschland tief, zu präsent sind die Erfahrungen zweier Nachkriegsgenerationen. Das Thema schien angesichts anhaltend niedriger Teuerungsraten zuletzt aber weit weg. Seit März hält sich die Inflationsrate jedoch hartnäckig über sieben Prozent, getrieben vor allem von hohen Energie- und Lebensmittelpreisen, Entspannung kaum in Sicht. Das facht nicht nur alte Ängste wieder an, sondern auch die politische Diskussion über Entlastungen. Tarifverhandlungen werden bei solchen Teuerungsraten ebenfalls nicht gerade einfacher.

«9-Euro-Ticket»

Für 9 Euro im Monat einfach mit allen Nahverkehrszügen überall hin fahren: Anfang des Jahres wäre ein solches Angebot noch undenkbar gewesen, doch die Dynamik der Diskussion nach Kriegsbeginn macht vieles möglich. Nach kurzem Finanzierungsstreit kommt das 9-Euro-Ticket – und gibt so vielen Menschen die Gelegenheit, für wenig Geld zu verreisen. Allerdings erfahren viele dabei auch aus erster Hand, wie reparaturbedürftig der Schienenverkehr und seine Infrastrukturen sind. Die Heftigkeit der Debatte um einen Nachfolger des 9-Euro-Tickets zeigt: Das Thema wird bleiben.

Von Stella Venohr und Tobias Hanraths, dpa