Wo mehr Platz und Sicherheit für den Radverkehr geplant waren, stehen nun weiter Autos: Auf der Ollenhauer Straße im Berliner Bezirk Reinickendorf zeigte sich zuletzt ein Aspekt der neuen Hauptstadt-Verkehrspolitik derzeit besonders bildhaft. Die Fahrradsymbole auf dem bereits eingerichteten Radstreifen wurden hastig mit gelben Streifen überklebt.
Dutzende weitere geplante Fahrrad- und Radschnellwege hat der CDU-geführte Senat vorerst gestoppt. Und ein rund 500 Meter langer Abschnitt auf der Berliner Friedrichstraße – einer bekannten Einkaufsmeile – ist an diesem Wochenende für den Autoverkehr wieder freigegeben worden.
Angesichts der Klimakrise haben in den vergangenen Jahren viele europäische Metropolen ihre Verkehrspolitik neu ausgerichtet. Paris, Barcelona, Mailand oder London versuchen, unter anderem mit Tempo-30-Zonen und Innenstadt-Fahrverboten, den Autoverkehr einzudämmen. Andere Städte wie Kopenhagen oder Amsterdam haben bereits vor Jahrzehnten damit begonnen, die Infrastruktur für den Radverkehr zu priorisieren. Und auch Berlin hatte mit einem ambitionierten Mobilitätsgesetz bundesweit Maßstäbe gesetzt.
Kommt jetzt die Rolle rückwärts?
Doch nun befürchten viele, dass der neue Senat – seit der Wiederholungswahl im Februar CDU-geführt – alles wieder zurückdreht. Tausende Menschen protestierten am vergangenen Wochenende auf einer Fahrraddemo gegen die vorläufigen Baustopps für Radwege und gegen eine weitere Stärkung des Autoverkehrs. «Die Berliner CDU profiliert sich mit einer Anti-Fahrrad-Politik auf Kosten der Sicherheit von Kindern und Senioren», kritisiert Robin Kulpa, Verkehrsexperte bei der Deutschen Umwelthilfe (DUH). «Verbesserungen für den Rad- und Fußverkehr aber auch für Bus und Bahn soll es nur geben, wenn keine Parkplätze oder Auto-Fahrspuren wegfallen.»
Die Senatsverwaltung versucht seither, die Wogen zu glätten. Der Stopp der Radwege sei nur vorübergehend, betont Verkehrssenatorin Manja Schreiner. Sie sollen überprüft und priorisiert werden und schon bald öffnen. Der Regierende Bürgermeister Kai Wegner (beide CDU) kündigte zudem jüngst an, beim Radwegeausbau deutlich mehr Tempo machen zu wollen als die Vorgängerregierung. Mit einer Politik «gegen das Auto» sei unter ihm allerdings Schluss, betonte er. Ambitionierte Verkehrswende klingt für viele anders.
Seit Jahren reißt der Verkehrssektor regelmäßig die Klimaziele der Bundesregierung. Allein im vergangenen Jahr stieß der Verkehr in Deutschland Berechnungen des Umweltbundesamts zufolge rund neun Millionen Tonnen mehr CO2 aus, als laut Klimaschutzgesetz für 2022 zulässig gewesen wäre. Zwischen 1990 und 2021 erhöhte sich der jährliche CO2-Ausstoß im Straßenverkehr laut Statistischem Bundesamt um mehr als 20 Prozent. Dabei müssen die Treibhausgasemissionen im Verkehr laut Gesetz bis 2030 im Vergleich zu 1990 halbiert werden. Mit den derzeit beschlossenen Maßnahmen der Politik sei dieses Ziel nicht zu erreichen, teilte das UBA im März mit.
Jahrelang ein Vorbild
Ein wesentlicher Treiber bei den Emissionen ist der Autoverkehr. Insbesondere den Kommunen kommt deshalb eine wichtige Rolle zu, mehr Menschen zum Umstieg vom Auto auf den Umweltverbund aus Bus, Bahn und Fahrrad zu bewegen. Über Jahre hinweg galt Berlins Verkehrspolitik in diesem Sinne als Vorbild. 2018 verabschiedete die damalige Landesregierung das sogenannte Mobilitätsgesetz. Die Eckpunkte hatte der Senat gemeinsam mit Fahrrad- und Umweltverbänden und nicht zuletzt auf Treiben der Initiative «Volksentscheid Fahrrad» entwickelt. Der Kern: Der Umweltverbund soll in der Hauptstadt Vorrang haben vor dem Autoverkehr.
Bis 2030 schreibt das Gesetz in Berlin ein dichtes Fahrradwegenetz aus Radschnellwegen und gewöhnlichen Routen mit einer Gesamtlänge von 2700 Kilometern vor. Zwar kam der Senat bei diesem Vorhaben bislang nur langsam voran. Doch insbesondere während der Corona-Pandemie entstanden vielerorts sogenannte Pop-up-Radwege, für die immer mehr Parkplätze und Autofahrspuren weichen mussten.
Treiber dieser Verkehrspolitik war aus Sicht des Verkehrsforschers Thorsten Koska stets die Berliner Bevölkerung. «Es ist auch deshalb ein so progressives Gesetz geworden, weil es eine zivilgesellschaftliche Initiative gegeben hat», sagt der Co-Leiter des Forschungsbereichs Mobilität und Verkehrspolitik beim Wuppertal Institut, einer gemeinnützigen Forschungseinrichtung. «Dieses gesellschaftliche Engagement gibt es noch immer, aber wir haben es inzwischen in Berlin mit einer Polarisierung zu tun, die politisch gewollt ist von Akteuren, die die Verkehrswende bremsen sollen.»
Symbolischer Streitpunkt Friedrichstraße
Immer wieder gerät Berlins Verkehrspolitik in den Sog ideologischer Debatten. Das gilt etwa für die Diskussion rund um den umstrittenen Weiterbau der Stadtautobahn A100 mitten durch bewohnte Bezirke, den vor allem CDU und FDP befürworten. Im Wahlkampf entspann sich ein ideologisch aufgeladener Streit um die Sperrung eines verkehrsstrategisch unbedeutenden Abschnitts auf der Friedrichstraße für Autos.
Dass es auch unideologischer geht, zeigen andere europäische Hauptstädte: Die sozialistische Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo ist seit 2014 im Amt – und das trotz ihrer sehr ambitionierten Verkehrspolitik zugunsten von Fahrrad- und Fußgängerverkehr. «In Berlin ist es insofern unglücklich gelaufen, es muss aber nicht so laufen», sagt Verkehrsforscher Koska. Vielmehr müssten die Menschen von den Vorteilen einer fahrrad- und fußgängerfreundlichen Politik überzeugt werden.
Eine ambitionierte Verkehrswende in Berlin werde auch andernorts wahrgenommen, sagt er. «Was in Berlin passiert, hat natürlich eine gewisse Symbolwirkung, weil Berlin lange Vorreiter bei der Verkehrswende war und natürlich genau beobachtet wird, was in der größten deutschen Stadt in diese Richtung passiert.»
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