21. November 2024

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VW-Abgasskandal: BGH spricht Restschadenersatz zu

Für viele Diesel-Kläger schien der Zug längst abgefahren. Aber plötzlich ist eine finanzielle Entschädigung selbst für Autobesitzer drin, die bis heute noch nicht einmal vor Gericht gezogen sind.

Sechseinhalb Jahre nach Auffliegen des Abgasskandals öffnet der Bundesgerichtshof (BGH) die Tür für neue Klagen gegen VW.

Die Karlsruher Richterinnen und Richter urteilten, dass betroffene Diesel-Besitzer, die zu spät oder noch gar nicht vor Gericht gezogen sind, trotzdem Anspruch auf finanzielle Entschädigung haben können. Grundvoraussetzung für sogenannten Restschadenersatz ist allerdings, dass das Auto neu gekauft wurde. Bei Gebrauchtwagen kommt er nicht infrage. (Az. VIa ZR 8/21 u.a.)

– Der juristische Hintergrund: Dass Volkswagen wegen der illegalen Abgastechnik des Skandalmotors EA189 grundsätzlich Schadenersatz zahlen muss, hat der BGH längst entschieden. Aber die Ansprüche müssen binnen drei Jahren geltend gemacht werden, sonst verfallen sie. Und Tausende sind zu spät vor Gericht gezogen. Viele andere haben gar nichts unternommen und sind deshalb leer ausgegangen.

Im Mittelpunkt der juristischen Auseinandersetzungen steht deshalb seit geraumer Zeit eine spezielle Vorschrift im Bürgerlichen Gesetzbuch, Paragraf 852. Danach kann es auch nach Eintritt der Verjährung noch Ansprüche geben, wenn «der Ersatzpflichtige durch eine unerlaubte Handlung auf Kosten des Verletzten etwas erlangt» hat. Denn niemand soll daraus Profit schlagen, dass er einem anderen Schaden zugefügt hat – nur weil der nicht rechtzeitig klagt.

Der BGH entschied jetzt zum ersten Mal, dass sich Neuwagen-Käufer im Dieselskandal auf diesen Paragrafen berufen können. Dabei spielt es keine Rolle, ob sie ihr Auto direkt bei VW oder über einen Händler erworben haben. Gleichzeitig bekräftigten die obersten Zivilrichterinnen und -richter die Urteile eines anderen Senats vom 10. Februar, wonach Gebrauchtwagen-Käufer generell leer ausgehen.

– Wie der Restschadenersatz berechnet wird: Unklar war auch, was «etwas erlangt» eigentlich bedeutet – also wie viel VW betroffenen Klägern zahlen muss. Der Wolfsburger Autobauer vertritt die Auffassung, dass damit nur der reine Gewinn gemeint sein kann, die Herstellungskosten für das Auto also berücksichtigt werden müssten.

Das sieht der BGH allerdings anders. Die Richter lassen keine Abzüge zu, denn VW habe sich «böswillig bereichert». Damit läuft die Berechnung wie beim eigentlichen Schadenersatz: VW muss den Kaufpreis größtenteils zurückerstatten; beim Kauf über einen Händler wird nur dessen Gewinnmarge abgezogen. Dafür muss der Kunde sein Auto hergeben und sich die damit zurückgelegten Kilometer anrechnen lassen.

Wie viel Geld jeweils übrig bleibt, haben die Gerichte im Einzelfall zu bestimmen. In den beiden Musterfällen, die sich der BGH ausgesucht hatte, müssen das nun die Oberlandesgerichte in Koblenz und Oldenburg nachholen. Die Richter dort waren der Ansicht gewesen, dass dem Kläger und der Klägerin generell kein Restschadenersatz zusteht, und hatten sich mit den Einzelheiten deshalb nicht näher befasst.

– Wer von der Entscheidung profitiert: Laut VW laufen zum Restschadenersatz bei Neuwagen derzeit rund 3000 Gerichtsverfahren. Darunter sind nach Angaben einer Sprecherin aber auch Konstellationen, auf die sich die beiden BGH-Urteile nicht ohne Weiteres übertragen lassen. Dort geht es um Kunden, die ihr Auto als Reimport, Vorführwagen oder mit Tageszulassung erworben haben. Andere Fälle betreffen Dieselautos der VW-Konzernmarken Skoda und Audi, für die Volkswagen ausschließlich den Motor hergestellt hat.

Betroffene können aber auch jetzt noch auf Restschadenersatz klagen. Die Frist dafür beträgt zehn Jahre ab Kauf. Damit kommt eine Klage noch für Diesel-Besitzer infrage, die ihr Auto zwischen Februar 2012 und September 2015 erworben haben. Damals kam der Skandal ans Licht.

Rechtsanwalt Claus Goldenstein, dessen Kanzlei zahlreiche Diesel-Verfahren führt, nennt die Entscheidung deshalb «ungemein wichtig». «VW droht nun eine neue Klagewelle», teilte er mit.

Allerdings sind vom Abgasskandal betroffene Autos inzwischen mindestens sechseinhalb Jahre alt und dürften in vielen Fällen reichlich Kilometer auf dem Tacho haben. Hier kann es passieren, dass der sogenannte Nutzungsersatz, den Klägerinnen und Kläger an VW zahlen müssen, den ursprünglichen Kaufpreis nahezu auffrisst. Dazu kommt die Frage, ob man sich wirklich von seinem Auto trennen möchte.

VW erklärte: «Es kommt auf den Einzelfall an, ob die Geltendmachung eines solchen Anspruchs für Kunden wirtschaftlich überhaupt sinnvoll ist.» Die Anspruchshöhe sei «für die in der Regel älteren und intensiv genutzten Fahrzeuge stark beschränkt».

Von Anja Semmelroch, dpa