Knapp zweieinhalb Jahre nach dem Kollaps des Wirecard-Konzerns beginnt am Donnerstag der Strafprozess gegen den des Milliardenbetrugs angeklagten früheren Vorstandschef Markus Braun. Die Anklage wirft dem österreichischen Manager und zwei mitangeklagten ehemaligen Wirecard-Führungskräften vor, mit Hilfe gefälschter Bilanzen Banken und Kreditgeber um insgesamt 3,1 Milliarden Euro geprellt zu haben.
Über seine Anwälte weist Braun die Anklage in einer aktuellen Stellungnahme zurück – und wirft den Ermittlern indirekt mangelnde Sorgfalt vor.
100 Prozesstage angesetzt
Die Beweisaufnahme wird umfangreich und schwierig: Die vierte Strafkammer des Landgerichts München I hat 100 Prozesstage bis ins Jahr 2024 angesetzt. Verhandelt wird in einem bunkerähnlichen unterirdischen Sitzungssaal neben der JVA München-Stadelheim.
Im größten Gefängnis Bayerns sitzen sowohl Braun als auch sein voraussichtlicher Widerpart in Untersuchungshaft: Der frühere Leiter der Wirecard-Tochtergesellschaft Cardsystems Middle East in Dubai ist für die Staatsanwaltschaft der Kronzeuge.
Nach Angaben seiner Verteidiger beabsichtigt der frühere Untergebene Brauns, «sein kooperatives Verhalten als Kronzeuge auch in der Hauptverhandlung fortzusetzen». Wie im Untersuchungsausschuss des Bundestags angekündigt, werde er sich seiner Verantwortung stellen. Der dritte Angeklagte ist früherer Chefbuchhalter des Konzerns.
Zu Beginn will die Staatsanwaltschaft – drei Ermittler im Wechsel – den 89-seitigen Anklagesatz vortragen. Das ist nur die Kurzversion, doch allein dies wird geschätzt fünf Stunden dauern.
Der Kernvorwurf: Braun und Komplizen sollen eine Bande gebildet haben, die die Bilanzen des Konzerns seit 2015 systematisch fälschte. Der mittlerweile abgewickelte Zahlungsdienstleister rechnete an der Schnittstelle zwischen Kreditkartenfirmen auf der einen sowie Einzelhändlern und sonstigen Verkäufern auf der anderen Seite elektronische Zahlungen ab und kassierte dafür Gebühren.
Verluste statt Gewinne
Laut Anklage schrieb der Konzern eigentlich Verluste. Um das zu kaschieren, soll die Wirecard-Bande ein nicht existentes «Drittpartnergeschäft» der Dubaier Tochter in Milliardenhöhe samt Scheingewinnen erfunden haben.
Wirecard meldete Jahr für Jahr rasant steigende Umsätze, 2018 stieg das IT-Unternehmen in den Dax auf. An der Frankfurter Börse war der Konzern zwischenzeitlich über 20 Milliarden Euro wert. Braun war mit einem Anteil von sieben Prozent größter Aktionär und wurde auf diese Weise zum Milliardär.
Der Kollaps kam im Juni 2020 und vernichtete auch Brauns Vermögen zum großen Teil. Nachdem die britische «Financial Times» jahrelang über Ungereimtheiten in den Bilanzen berichtet hatte, räumte das Unternehmen ein, dass 1,9 Milliarden Euro nicht auffindbar waren, es folgte die Insolvenz. Die Erlöse des Drittpartnergeschäfts waren angeblich auf Treuhandkonten in Südostasien verbucht. Das Geld wird bis heute vermisst.
Braun stellt dies anders dar: Er argumentiert, dass die auf den Treuhandkonten verbuchten Gelder existierten, aber veruntreut worden seien. Er beschuldigt seinen Mitangeklagten, den ehemaligen Geschäftsführer in Dubai.
«Dass das Drittpartnergeschäft von Wirecard nicht fingiert war, sondern tatsächlich existierte, ist durch auf Kontoauszügen dokumentierte Zahlungsflüsse belegt», heißt es in der Stellungnahme, die Braun gemeinsam mit seinem Verteidiger Alfred Dierlamm ausgearbeitet hat. Darin sind vier Drittpartner-Unternehmen genannt, auf deren inländischen Konten eine Milliarde Euro verbucht sei.
Auch über weitere Firmen sollen demnach Zahlungen im Zusammenhang mit dem Drittpartnergeschäft abgewickelt worden sein. Auf den bis jetzt vorliegenden Konten dieser Unternehmen seien ebenfalls circa eine Milliarde Euro an Einzahlungen im Zusammenhang mit dem Wirecard-Drittpartnergeschäft belegt, heißt es in der Stellungnahme.
Angeklagter gegen Angeklagten
Braun erhebt schwere Vorwürfe gegen den mitangeklagten Ex-Chef der Dubaier Tochter: Die Transaktionsdaten aus dem Wirecard-Drittpartnergeschäft mit einem Volumen von mehreren Milliarden Transaktionen pro Jahr seien in einer externen Datenbank verarbeitet worden. Diese Daten seien jedoch nach den Feststellungen der Compliance-Abteilung der Wirecard AG «im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit dem Zusammenbruch» des Unternehmens von dem Manager gelöscht worden.
«Damit wurde dem gesamten Verfahren die Datengrundlage entzogen», heißt es in der Stellungnahme. Braun und Verteidigung schreiben von «belastbaren Anhaltspunkten», dass es sich bei den Zahlungen zu einem sehr erheblichen Teil um der Wirecard AG zustehende Kommissionszahlungen gehandelt habe – «die allerdings nicht dem Treuhandkonto der Wirecard AG zugeführt, sondern veruntreut wurden.»
Zahlungsflüsse an Firmen in Hongkong, Antigua, Singapur, British Virgin Islands und sonstige Schattengesellschaften seien belegt. «Die Zahlungsflüsse an diese Veruntreuungsgesellschaften wurden bis heute nicht nachverfolgt», heißt es in der Stellungnahme; darin steckt der Vorwurf, die Staatsanwaltschaft habe nicht genau genug ermittelt. «Dr. Markus Braun war in die Machenschaften, die ausschließlich der Veruntreuung von Geldern der Wirecard AG dienten, nicht involviert und hatte hiervon auch keine Kenntnis.»
Somit müssen der Vorsitzende Richter Markus Födisch und die Kammer klären, ob Braun Betrüger oder Betrogener war. Die Staatsanwaltschaft widerspricht Vorwürfen mangelnder Sorgfalt. Die vollständige Anklage ist 474 Seiten lang, die Akten füllen 700 Bände.
Abgeschlossen sind die Wirecard-Ermittlungen längst nicht, auch wenn nun der Prozess beginnt. Flüchtig ist nach wie vor der frühere Vertriebschef Jan Marsalek, eine weitere Schlüsselfigur.
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