Im Münchner Wirecard-Prozess zeichnet sich eine Verlängerung über die eingeplanten 100 Verhandlungstage hinaus ab. «Das Gericht denkt über eine Beweisaufnahme bis in den Februar nach», sagte ein Gerichtssprecher.
Heute geht das Verfahren nach 58 Prozesstagen in die erste längere Pause. Einen Beweis, dass der frühere Vorstandschef Markus Braun am mutmaßlichen Milliardenbetrug bei dem 2020 zusammengebrochenen Dax-Konzern beteiligt gewesen sein könnte, hat das Verfahren auch nach acht Monaten Verhandlungsdauer nicht zutage gefördert.
Brauns Verteidiger warten im Verfahren um den größten Bilanzskandal in Deutschland seit 1945 weiter auf eine Entscheidung des Gerichts über einen Berg von weit über 400 Beweisanträgen, mit denen die Anwälte die Unschuld ihres Mandanten belegen wollen.
An der Ausgangssituation hat sich seit dem Prozessauftakt am 8. Dezember 2022 quasi nichts geändert: Braun beteuert seine Unschuld, seine Verteidiger beschuldigen den Mitangeklagten und Kronzeugen Oliver Bellenhaus als Lügner. Der frühere Wirecard-Chefbuchhalter als dritter Angeklagter schweigt.
Chaotische Verhältnisse im Konzern?
Im Prozess wusste bislang keiner der vielen Zeugen Genaueres über Brauns Aktivitäten zu berichten. Schriftliche Belege, dass der österreichische Manager seine Untergebenen zu kriminellen Handlungen angestiftet oder davon gewusst hätte, fehlen ebenfalls.
Hervorgetreten ist bislang das Bild eines Vorstandschefs, der sich um das Tagesgeschäft nicht kümmerte oder kümmern wollte, sondern dies weitgehend dem seit drei Jahren untergetauchten Vertriebsvorstand Jan Marsalek überließ.
Vorwürfe, dass es bei Wirecard nicht mit rechten Dingen zugehe, gab es schon mehr als ein Jahrzehnt vor der Insolvenz. Die Zeugenaussagen zeichnen ein Bild von einem Konzern, in dem es chaotisch zugegangen sein und der Vorstand kein besonderes Interesse an der Rechtstreue gezeigt haben muss. Braun dagegen habe danach die gegen das Unternehmen erhobenen Vorwürfe abzutun gepflegt, ohne diesen nachzugehen.
Im April 2020 forderte der Aufsichtsrat kategorisch die Veröffentlichung einer Ad-hoc-Mitteilung, nachdem eine Sonderprüfung der Wirecard-Bilanzen durch die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft schwere Mängel zu Tage gefördert hatte. Doch Braun tat das Gegenteil: Er ließ die Finanzwelt wissen, es gebe keinen Nachweis für Bilanzmanipulation – und ignorierte die Aufforderung des Aufsichtsrat, die Mitteilung zu korrigieren. «Vertrauen Sie mir, es ist alles da. Ich habe Herrschaftswissen», soll Braun damals laut Aussage eines der beteiligten KPMG-Prüfer erklärt haben.
Dienstleister für Schund und Schmuddel
Wirecard wickelte an der Schnittstelle zwischen Dienstleistern beziehungsweise Händlern und Banken Kreditkartenzahlungen ab. Im Prozess deutlich geworden ist auch, dass Wirecard Dienstleister für Schund und Schmuddel war: «Pornografie war ganz normal bei uns», gab ein ehemaliger Mitarbeiter der internen Revision am Mittwoch im Zeugenstand offenherzig zu Protokoll.
Laut Anklage sollen Braun und Komplizen Milliardenumsätze mit sogenannten Drittpartnerfirmen (TPA) erdichtet haben, die im Auftrag von Wirecard Kreditkartenzahlungen in asiatischen Ländern abwickelten, in denen dem bayerischen Konzern die entsprechende Lizenz fehlte.
Im Vertrauen auf die angebliche hohe Profitabilität gewährten die Banken dem Konzern Kredite in Höhe von gut drei Milliarden Euro, mit der Insolvenz ging ein großer Teil dieser Darlehen verloren.
Braun als ahnungsloses Opfer?
Brauns Verteidiger wollen mit den 450 Beweisanträgen belegen, dass Marsalek und Kronzeuge Bellenhaus im Verein mit zahlreichen Mittätern die Schurken waren, Braun hingegen ahnungsloses Opfer.
Marsalek und Co. soll es demnach gelungen sein, Kunden und Drittpartner-Umsätze heimlich in ein eigenes Geflecht von Schattenfirmen umzuleiten, ohne dass Braun und die ehrliche Mehrheit der Wirecard-Belegschaft davon Wind bekommen hätten.
Allerdings haben die bisherigen Zeugenaussagen keinerlei Hinweis geliefert, dass Wirecard-Mitarbeiter jemals Kunden oder Interessenten an Drittfirmen vermittelt hätten, ob echte oder falsche. «Keiner kannte die TPA-Partner, und keiner wusste, was da vermittelt werden sollte», sagte dazu der frühere Wirecard-Revisor.
Auch Insolvenzverwalter Michael Jaffé hat bislang keine Spur der vermissten Milliarden gefunden. Der Münchner Anwalt war noch nicht als Zeuge geladen, seine Aussage könnte ein Schlüsselmoment des Prozesses werden. Doch zunächst geht der Prozess für drei Wochen in die Sommerpause.
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